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Corona-Lovestory I

Veröffentlicht am 19.02.2021

In der "Immer- zuhause-Zeit", die wir gerade erleben, gedeiht das kreative Schreiben besonders prächtig. Das Schicksal einer adeligen Dame, deren Bildnis in einer kreativen OLNiNE-Schreibnacht unsere Fantasie anregte, hat zu einer Reihum-Geschichte geführt, die überaus vergnüglich und spannend zu lesen ist.  Eine Frau schreibt immer eine Seite - und schon wanderte die Geschichte weiter, zur nächsten Schreiberin, zur nächsten unerwarteten Wendung.

Tee oder Kaffee, Madame?

 „Bringen Sie das Tablett hierher“, sagt Madame de Surchoix und lächelt sanft. Demütig senkt Antoinette den Kopf und setzt das Tablett vorsichtig auf das kleine Tischchen, dessen Decke Madame zurecht zupft. Madame sieht heute wieder besonders schön aus. Das türkisfarbene Gewand, für das Madame die Seide aus Indien orderte, strahlt Eleganz und Raffinesse aus. Das gepuderte Haar mit den frisch ondulierten Löckchen ist mit Seidenbändern geschmückt. Antoinette hat sich gestern wieder die Finger an dem heißen Eisen verbrannt beim Bemühen, Madames Haar genauso zu gestalten, wie es die Gräfin de Beaumarchais jetzt trägt. Die rote Brandblase an ihrer linken Hand schmerzt noch immer.

„Nun, bekomme ich endlich meinen Tee?“, fragt Madame. Ihre Stimme klingt nicht mehr so weich wie gerade, sondern nörgelnd und spitz. Antoinettes Hand zittert ein wenig, als sie den Kaffee vorsichtig in die dünne Porzellantasse gießt.

Nur jetzt nichts verderben, betet sie stumm. Ob Madame die giftige Essenz in dem heißen Getränk riechen kann?

„Tee habe ich bestellt!“, giftet Madame das Mädchen an. „Verschwinde mit dieser neumodisch stinkenden Brühe. Ich kann Kaffee nicht ausstehen!“

Entsetzt stürzt Antoinette in die Küche zurück. Das zweite Tablett ist weg! Das Mädchen Bernadette schenkt wohl gerade Madame Scarron, der Schwägerin von Madame de Surchoix, den Tee ein. Wie gelähmt verharrt Antoinette in der Küche. Was tun? Tee kochen für Madame? Ins Zimmer von Madame Scarron eilen und das Missverständnis aufklären? Die Sachen packen und fliehen?

Dabei war alles so gut bedacht. Der Herr hatte ihr 100 Gulden versprochen, wenn sie Madame das weiße Pulver in den Morgentee gäbe. Der Herr, der in den letzten Wochen jeden Abend auf ihr Zimmer kam und ihr beim Kämmen ihres langen rotblonden Haares behilflich war. Dabei manchmal, scheinbar aus Versehen, ihren Nacken streifte. Jedoch zu ihrem Leidwesen nie zudringlich wurde. Sie sprachen über vieles. Er war neugierig auf ihre Gedanken und erzählte vom Hofe des Königs und seinen Erlebnissen. Und darüber, wie herzlos sich Madame ihm gegenüber gebärdete. Nichts als Vorwürfe und Jammereien.

Noch während sie nachdenkt, kommt ein spitzer Schrei aus dem ersten Stock. Es ist Bernadette, die laut um Hilfe ruft: „Schnell! Hilfe! Kommt! Meine Herrin!“ Aus allen Zimmern stürzen Bedienstete herbei, um nachzuschauen, was da los sei. Jedoch ist es bereits zu spät. Madame Scarron liegt zusammengekrümmt, mit verzerrtem Gesicht und Schaum vor dem Mund, am Boden. Neben ihr die Scherben der Teetasse und ein großer dunkelbrauner Fleck auf dem Teppich.

„Was ist denn hier los!“ In der Tür erscheint Madame de Surchoix und verlangt mit schriller Stimme zu erfahren, was passiert sei. Als sie die Szene überblickt, schlägt sie die Hände über dem Kopf zusammen und sinkt neben ihrer Schwägerin auf die Knie. Man solle schnell den Arzt holen, verlangt sie, wohlwissend, dass es bereits zu spät ist. Lautstark beginnt sie zu lamentieren und tupft sich mit ihrem immer bereiten Spitzentaschentuch die nicht vorhandenen Tränen ab.

Unterdessen huscht Antoinette,  in ihren Umhang gehüllt und das Bündel geschnürt, durch den Dienstboteneingang ins Freie. Regenschauer und Sturmböen empfangen sie. Mit gesenktem Kopf erkämpft sie sich ihren Weg durch die Gasse.

In dem allmorgendlichen Gedränge achtet niemand auf sie. Im Laufen überlegt sie angestrengt, wo sie denn unterkommen könnte. Madame de Surchoix wird ob der Getränkeverwechslung und ihres Verschwindens Verdacht schöpfen und nach ihr suchen lassen. Sie muss unbedingt aus der Stadt heraus. Da hört sie ihren Namen. Als sie sich umwendet, steht Monsieur de Surchoix vor ihr.

„Antoinette, wohin denn so eilig?“, sagt er lächelnd. Er kommt gerade von seinem Morgenspaziergang zurück und ist sehr verwundert, sie so zu sehen.  „Haben Sie Madame denn nicht das Frühstück serviert?“, fragt er sie, nun mit einem lauernden Blick. Doch Antoinette bringt kein Wort heraus. Panisch blickt sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Doch schon spürt sie den harten Griff um ihren Oberarm. Monsieur de Surchoix schiebt sie in eine kleine Seitengasse und dort in eine Hofeinfahrt. Er drückt sie grob an die Hausmauer und hält ihren Arm weiter fest umklammert. „Jetzt aber raus mit der Sprache!“, herrscht er sie an. Sein sonst allgegenwärtiges Lächeln ist verschwunden. „Was ist passiert? Sie sollten doch….“

Antoinette, inzwischen in Tränen aufgelöst, bringt stockend hervor, dass nicht ihre Herrin, sondern Madame Scarron das Getränk mit dem Pulver erhalten habe, weil sie die beiden Tabletts verwechselt habe und Madame Scarron nun wahrscheinlich tot sei und sie daran schuld sei und dass sie nun nicht wisse, wohin. Am Ende ihres verzweifelt gestammelten Berichts bricht sie zusammen. Ernest de Surchoix kann sie gerade noch auffangen.

Das ohnmächtige Dienstmädchen im Arm haltend, überlegt er fieberhaft, was jetzt zu tun sei. Natürlich darf man das Mädchen nicht finden. Mit den Verhörmethoden der Gendarmerie würde sie sehr bald gestehen, dass sie das Gift von ihm erhalten hätte, mit dem Auftrag, es seiner Ehefrau zu verabreichen. Sie muss verschwinden! Sein Freund Gustave fällt ihm ein, ein reicher Nichtsnutz, Lebemann und Frauenheld, der ihm schon des öfteren in misslichen Situationen geholfen hat. „Ja, Gustave!“, denkt er erleichtert, „Gustave wird mir helfen.“  

Er tätschelt der Ohnmächtigen mit der freien Hand die Wange. „Kommen Sie zu sich, Antoinette. Ich werde eine Lösung finden“, redet er leise auf sie ein und wirklich – sie schlägt die Augen auf. „Monsieur, wo bin ich? Was ist geschehen?“ haucht sie und sieht ihn mit großen Augen an. „Meine Liebe, kommen sie. Wir müssen von hier weg. Ich werde sie in Sicherheit bringen“, raunt er Antoinette zu und zieht sie mit sich fort.

Eilig hasten die beiden die Rue de l’Eglise hinunter.  Kurze Zeit später erreichen sie durchnässt und vor Kälte zitternd das Herrenhaus von Gustave de Bougainville. Monsieur de Surchoix hämmert mit dem Türklopfer – einem Löwenkopf aus Messing - an die alte Eichentür, während er die erschöpfte Antoinette im Arm hält.

Die Tür öffnet sich.  „Jean, lassen Sie uns herein, schnell!“, stößt Monsieur de Surchoix hervor und zieht Antoinette in die Eingangshalle.  Er hilft Antoinette auf den mit blauem Seidenstoff bezogenen Stuhl neben der Kommode und wendet sich Jean, dem Butler, zu. „Ich muss Gustave dringend sprechen, ist er zuhause? Bitte rufen Sie ihn. Wir warten hier und wärmen uns ein wenig auf.“

„Ma chère, es wird alles gut, beruhigen Sie sich. Gustave wird uns helfen",  wendet er sich Antoinette zu. Im Stillen hofft er, dass Gustave nicht zu viele Fragen stellt, denn er muss schnellstens zurück in sein Stadtpalais, um die Situation dort zu beruhigen.

„Ernest, was ist passiert?“ ruft Gustave, während er gelassen die geschwungene Treppe herunterschreitet und sich die Spitze an seinem Hemdsärmel zurecht zupft. „Jean meint, du willst mich dringend sprechen!“ Neugierig schweift sein Blick zu Antoinette, die den Kopf gesenkt hält.

Gustave, groß gewachsen mit dunkelbraunem Haar, das er mit einem Seidenband zu einer Queue zusammengebunden hält, kennt Ernest seit Kindertagen, als sie sich vor dreißig Jahren einen Privatlehrer teilten.  Die Landsitze der beiden aristokratischen Familien liegen nebeneinander, draußen im Süden der Stadt.  Als Jugendlicher hat sich Gustave bei einer Treibjagd das rechte Bein gebrochen, das nie mehr richtig zusammenwuchs.  Seither hinkt Gustave, was ihn bei der Damenwelt nur noch interessanter macht, zumal sein kantiges Gesicht mit den blauen Augen einen unwiderstehlichen Charme ausübt.  Sehr belesen und entfernt mit Louis Antoine de Bougainville, dem Offizier, Seefahrer und Schriftsteller, verwandt, ist er bei den Soiréen und Veranstaltungen der heiratswilligen Debütantinnen immer ein gern gesehener Gast.

„Ernest, lass uns in die Bibliothek gehen. Dort kannst du mir alles erzählen.“

„Jean, bringe Mademoiselle in die Küche und lass‘ ihr von der Köchin einen heißen Tee geben.“

Während die Männer die Eingangshalle durchschreiten, um sich in die Bibliothek zu begeben, folgt Antoinette dem Butler. Sie hält den Kopf noch immer gesenkt. Durch einen Nebengang verlassen sie das Hauptgebäude und durchqueren einen Innenhof, der nach dem Regenschauer noch feucht und dunstig ist. Antoinette fröstelt unter ihrem Umhang. In ihrem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Ich habe alles falsch gemacht, nicht aufgepasst, man wird mich finden und vor den Augen der Öffentlichkeit der Guillotine zuführen. Mein Kopf wird rollen. Das ist mein Ende!

„Mademoiselle, kommen Sie herein, Sie sind ja ganz durchnässt!“ Die hohe Stimme einer runden Frau mit Kochhaube reißt sie aus ihren Gedanken. „Kommen Sie, ich mache ihnen einen kräftigen Kräutertee mit den Zutaten aus unserem Garten. Sie holen sich ja den Tod, wenn Sie noch länger hier herumstehen! Und vor allem, ziehen Sie doch den Umhang aus, er ist ja ganz durchfeuchtet. Jean! Bitte holen Sie uns doch eine warme Decke für Mademoiselle! Wie ist eigentlich Ihr Name?“ Mit diesen Worten schiebt sie Antoinette in die Küche und setzt sie auf einen Stuhl. Während die Köchin eilig davon läuft, sieht sich das Mädchen vorsichtig um. Der Raum ist dunkel, auf einem langen, massiven Tisch kann sie Teller mit Gemüse, Schüsseln mit Obst und allerlei Pasteten und Kuchen erkennen. Dahinter befindet sich der Kamin, über dessen Feuer ein großer Eisentopf hängt. Ihm entweichen brodelnde Dämpfe und verbreiten den angenehmen Duft nach Hühnersuppe im gesamten Raum.

Etwas später hält Antoinette den Tee umklammert, den ihr die Köchin mitsamt einer Wolldecke gegeben hat. Während sie trinkt, lässt das Zittern ihrer Hände langsam nach. Sie versucht sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie… Plötzlich reißt jemand die Tür neben ihr auf. Antoinette fährt zusammen und schüttet fast den Tee auf ihr Kleid. Zwei muskulöse Burschen rollen ein riesiges Eichenfass zur Tür herein. Der Boden bebt, als die Lieferanten es über das Steinpflaster rollen. „Wo ist das leere Fass?“, ruft einer der beiden laut, „Monsieur Gustave hat befohlen, das leere Fass gleich mitzunehmen!“

„Mon Dieu! Wo habt ihr nur gesteckt? Seit zwei Tagen warte ich auf euch und wir veranstalten morgen die Soireé, es steht noch so viel herum, es ist gar kein Platz! Herrje, das ist tatsächlich ein großes Ding, wohin nur so schnell damit?“ Die runde Köchin bekommt ein rotes Gesicht, der Ärger ist ihr anzusehen. Während sie mit den Burschen lamentiert, bemerkt Antoinette durch die noch leicht geöffnete Tür, dass die Herren Ernest und Gustave zurückgekehrt sind. Kurz bevor sie eintreten, fasst Monsieur Gustave sein Gegenüber fest an den Schultern und schaut ihm tief ins Gesicht. Seine blauen Augen sind eiskalt, sein Blick starr.

„Also, wir machen es wie besprochen. Glaub‘ mir, es ist das Beste. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Gendarmerie sie nicht ausfindig macht. Wenn sie irgendwann erwischt wird und singt, bist du geliefert!“ Ernest de Surchoix schaut seinen Freund an, dann nickt er ganz langsam. „Gib ihr das Geld, so schöpft sie keinen Verdacht. Dann wird die Sache erledigt. Hörst du?“  Gustave lässt Ernests Schultern los. Sie richten sich auf, ziehen Hemd und Wams straff und öffnen die Tür zur Küche. „Messieurs! Oh, welch‘ freudige Überraschung! Wie kann ich Ihnen helfen?“ Die Köchin wischt sich eifrig die Hände an der Schürze ab und eilt aus dem hinteren Teil der Küche den beiden Männern entgegen. Gustave schaut sich um. „Wo ist das Mädchen?“, fragt er. Erschrocken hebt die Köchin die Hand an den Mund. Auf dem Boden sieht sie die Scherben der Tasse. Der Stuhl, auf dem Antoinette gerade noch saß, ist leer. Unterdessen rollen die zwei Burschen ein großes, leeres Weinfass zur Hintertür hinaus.

Im Haus derer von Surchoix ward in der Zwischenzeit le Docteur eingetroffen. Kopfschüttelnd betastete er die Tote und attestierte schlussendlich den Tod durch Gift. Worauf eiligst die Gendarmerie gerufen ward. Nachdem die Befragung von Madame de Surchoix kein Licht in die Sache brachte, müssen die Dienstboten antreten. Dem Mädchen Bernadette, das unglücklicherweise das Tableau verwechselt hatte, rinnen  die Tränen während der gestrengen und sehr forschen Befragung aus den Augen. Madame, der Arzt und die Gendarmen sezten dem armen Ding gar heftig zu. Jedoch stammelt es wieder und wieder unter lautem Schluchzen, dass es nicht wisse, wie das Gift in den Tee der Madame gelangt sein könnte. Und da sonst niemand verdächtig scheint, so werden dem armen Mädchen von den Gendarmen Ketten angelegt und es landet im feuchten, dunklen, von Ratten bevölkerten Verließ des Département de la police. Klirrend schießen sich hinter ihm die Gittertüren. Schluchzend und zitternd verkriecht es sich in die hinterste Ecke dieses elenden Loches, krümmt sich zusammen, schließt seine Augen und wimmert still in sich hinein.

Währenddessen kullert ein Fass unter lautem Johlen die Gasse hinunter, heftig angetrieben von den beiden Lieferburschen. Es rumpelt durch die unebenen Rinnen, bleibt manchmal im Schlamm stecken und wird weiter über eine Brücke gestoßen bis zum Weinhändler Bonsaveur. Die Burschen rollen es im Innenhof zu den anderen leeren Fässern. Mit ihrem Lohn, einem Fläschchen des sauren Hausherrentrunks, ziehen sie weiter.

Wie endlich die Dunkelheit über die Stadt gezogen kommt, beginnt es im Fass zu rumoren. Mit klammen Fingern müht sich Antoinette den Deckel des Fasses aufzudrücken, was nach mehrmaligen Versuchen unter leisem Ächzen und Stöhnen endlich gelingt. Vorsichtig kriecht sie aus dem Fass, streckt ihre steif gewordenen Glieder und begutachtet die Blessuren, die sie sich in diesem absonderlichen Fahrzeug zugezogen hat. Und wie sie so dasteht und an sich herunterblickt, hört sie heftiges Knurren hinter sich und eine tiefe Stimme donnert laut: „Halt, was haben wir denn da? Ei, ein feines Mägdelein! Wo kommst du denn her, und was hast du in meinem Fass verloren?“ Erschrocken versucht sich Antoinette in der Dunkelheit wegzuducken, aber die gefletschten Zähne des schwarzen Köters treiben sie in die Arme des Mannes, der nun näher gekommen ist. Mit gesenktem Kopf steht sie vor Monsieur Bonsaveur. Er hebt ihr Kinn in die Höhe und begutachtet die Kleine. „Na was hast du mir zu sagen!“ „Ei, werter Herr, ich bin ins Fass gekrochen und muss wohl eingeschlafen sein. Vom Rumpeln wurd‘ ich wach, konnt‘ aber nicht herausspringen. So bin ich nun hier. Weiß er mir einen Dienst?“ Mit einem koketten Augenaufschlag begleitet sie ihr Ersuchen.

„Du kommst mir gerade recht. Erst heute ist meine Trine weggelaufen mit ihrem Gardeoffizier, das dumme Ding. Und so stehe ich da ohne Dienstmagd mitten am Tag. Aber sag‘, wie heißt du und wo kommst du her?“ „Sie rufen mich Liette. Herr, ich kann kochen und backen und die Wäsche bleichen, plätten und nähen und bin mir für keine Arbeit zu schade. Wenn Sie es sich doch überlegen wollten?“

„Nun denn, so komm mit ins Haus. Ich zeig dir deine Kammer und dann kannst du mich deine Kochkünste schmecken lassen. Und irgendwann wirst du mir deine Geschichte schon verraten!“

 

Am späten Nachmittag kehrt Monsieur de Surchoix in sein Haus in der Rue de l`Eglise zurück und trifft auf seine völlig aufgelöste, durch die Zimmerfluchten irrende und dabei lautstark lamentierende Ehefrau. Als sie seiner gewahr wird, stürzt sie auf ihn zu und überschüttet ihn mit Vorwürfen. „Wo bist du gewesen? Wieso kommst du erst jetzt nach Hause, du Nichtsnutz von einem Ehemann? In unserem Hause ist ein Verbrechen geschehen!“ Ernest de Surchoix gibt sich entsetzt. „Mon Dieu, meine Liebe, was ist geschehen?“ Er tritt auf sie zu und möchte den Arm um sie legen, doch Madame weicht zurück und sieht ihn argwöhnisch an. „Die Frau meines Bruders ist vergiftet worden. Das Gift war wohl in ihrem Morgentee. Die Polizei hat Bernadette verhaftet, doch ich frage mich, welchen Grund das Mädchen gehabt haben könnte, Louise so etwas anzutun. Verwunderlich ist auch, dass das Gift im Tee war, obwohl doch Louise morgens nur Kaffee trinkt. Und noch mehr verwundert es mich, dass Antoinette seit heute Morgen verschwunden ist. Wir haben sie schon im ganzen Haus gesucht. Du weißt wohl nicht wo sie sein könnte?“ Dabei sieht sie ihren Mann durchdringend an.

Ernest de Surchoix weist diese Frage entrüstet von sich: „Woher sollte ich….“, doch seine Frau schneidet ihm das Wort ab. „Tu‘ nicht so scheinheilig!“, herrscht sie ihn an. „Du scharwenzelst doch seit Wochen um Antoinette herum. Glaubst du ernsthaft, ich hätte das nicht bemerkt? Ich habe jedenfalls die Gendarmerie angewiesen, sie ausfindig zu machen. Sie durchsuchen bereits jeden Winkel der Stadt und werden sie sicher bald finden.“ Madame de Surchoix schickt sich an, das Zimmer zu verlassen, nicht ohne noch einen kurzen Blick auf ihren Mann zu werfen, dem alle Farbe aus dem Gesicht gewichen ist.

Ernest de Surchoix sinkt erschöpft auf die Recamiere. Ein tiefes Gefühl der Angst legt sich auf seine Brust.

Währenddessen begibt sich Antoinette in die Küche des Weinhändlers. Sie nimmt vom aufgeschichteten Holz und beginnt im Herd Feuer für das Abendessen zu machen. Ihre Gedanken sind immer noch bei den Geschehnissen der vergangenen Stunden.  Was soll aus mir werden? Werden sie mich suchen? Was ist mit Bernadette passiert, die Madame Louise ihretwegen den vergifteten Tee serviert hat? Ernest, wird er mich suchen, mir helfen, mir nach dem Leben trachten oder mich wirklich mit Geld abspeisen wollen?

Bernadette muss unterdessen auf Geheiß des Gefängnisdirektors das Verlies der Gendarmerie noch am selben Abend verlassen. Die Gendarmen bringen Bernadette quer durch die Stadt zum Gefängnis der Stadt. „Öffne die Tür, mach‘ auf! Ich bring‘ Euch eine Giftmischerin aus dem Hause Surchoix. Sie heißt Bernadette“, ruft einer der Gendarmen laut und zerrt Bernadette vor die vergitterte Luke. Ein pockennarbiges Gesicht erscheint. Knarrend öffnet sich die schwere Eichentür und der Wärter nimmt Bernadette in Empfang. Während er sie von oben bis unten mustert, zieht er Bernadette grob in den Hof, dreht sich zu den Gendarmen um und gackert: „Da hast du uns ein schönes Täubchen gebracht. Unser Direktor wird sich der Kleinen annehmen, ha, ha, ha.  Au revoir!“

„Na, meine Kleine, eine Giftmischerin bist du? Das hatten wir schon lange nicht mehr. Komm‘, ich bring‘ dich zum Direktor, der eine besondere Zelle für dich aussucht“.  Bernadette zittert am ganzen Körper, sie friert, das Kleid ist durch den Gang quer durch die Stadt völlig durchnässt und klebt an ihrer Haut. Die Tränen laufen ihr über das Gesicht. Sie schluchzt laut, als der Wärter die Türklinke zum Büro des Direktors herunterdrückt.

„Die Gendarmen haben uns diese kleine Hexe gebracht, sie heißt Bernadette und ist aus dem Haushalt der Surchoix“, stößt der Wärter heraus, während er sich kurz verneigt und das Büro schnell verlässt.

Hinter dem Schreibtisch erhebt sich behäbig der Direktor.  In grünem Samt gekleidet, sein Hemd mit den Spitzenrüschen aufgeknöpft, die weiße Perücke etwas schief auf dem Kopf, macht er eine schäbige Figur. Sein gutgenährter Bauch hängt über den schwarzen Gürtel.  Die Hose steckt in hohen schwarzen Lederstiefeln, die nicht poliert sind. Durchdringend schauen seine kleinen Schweinsäuglein Bernadette an. „So, so, eine Giftmischerin bist du. Dein Verlies wartet bereits. Mit einer Gerichtsverhandlung haben wir es nicht so eilig, das verstehst Du doch, oder?“

  Diese Anspielungen lassen Bernadette nur noch mehr zittern, dieses Mal nicht vor Kälte und Nässe.

„Abführen!“, schreit Monsieur le Directeur durch die geschlossene Tür, die sich schnell öffnet. Der pockennarbige Wärter erscheint, denn er hat, wie immer bei solchen Verhören, gelauscht und zieht die schluchzende Bernadette hinaus. Er schiebt sie die Wendeltreppe hinunter, bis sie im Keller vor der verriegelten Eisentür ankommen. „Mach‘ die Tür auf, ich bringe Nachschub!“ Schlurfende Schritte nähern sich, eine Laterne bringt etwas Licht.  Bernadette schreit auf und bleibt erstarrt stehen.

 

Am Nachmittag desselben Tages liegt Madame de Surchoix hinter geschlossenen Vorhängen auf ihrer rotgoldenen Chaiselongue. Sie verträgt diese Aufregung nicht und hat sich in ihre Gemächer zurückgezogen, von heftiger Migräne heimgesucht.

Nach all den Turbulenzen will sie einfach nur ihre Ruhe haben. Doch daraus wird nichts. Ein Bote, der umgehend in ihr Boudoir vorgelassen wird, unterbricht ihre Rast. Er überbringt eine Botschaft, die er versprach – bei seinem Leben – nur an Madame persönlich zu überreichen. Voll Freude nimmt Madame das Schreiben entgegen, nachdem sie das vertraute Papier und die schwungvolle Schrift erkannt hat. Mit einem Gulden reichlich entlohnt, entlässt sie den Boten und öffnet ungeduldig die Nachricht. Sie kann es kaum fassen. Ihre Wangen überzieht ein sanftes Rosé. Unvermutet kehren ihre Kräfte wieder. Leichten Herzens erhebt sie sich vom Sofa, läutet nach der Magd und lässt anspannen.

Schnell die Locken nachgepudert, Wangen und Lippen mit Röte geschmückt, etwas Parfum hinter Ohren und auf den Busen. So zurechtgemacht nimmt sie ihr Cape und verschwindet durch den Dienstbotengang in den hinteren Hof, wo der Kutscher bereits wartet. „Liebster, ich komme!“ Diese Worte seufzend sinkt sie in die Polster und zieht den Vorhang zu. Der Wagen rollt beim Tor hinaus in die benachbarte Grafschaft, zu jenem Platz, wo sie schon viele Schäferstündchen mit ihrem Liebsten verbracht hat.

Das heutige Tête-à-Tête kommt ganz unerwartet. Umso freudiger sehnt sie sich ihrem Liebsten entgegen.

Noch bevor die Kutsche im Hof des kleinen Anwesens zum Stehen kommt, wird die Türe aufgerissen. Da steht er und streckt ihr beide Arme entgegen. „Endlich bist du da! Jetzt gehörst du ganz mir!“ Erstaunt und freudig sinkt sie in seine Arme, und sie finden sich in einem stürmischen Kuss. Gustave hebt sie hoch und trägt sie ins Haus, ohne von ihren Lippen zu lassen. Endlich, nach Luft ringend, will sie wissen, was los ist: „Gustave, was redest du da? Was ist geschehen. So hast du dich noch nie gebärdet!“ Und während ständiger Liebkosungen erzählt ihr Gustave vom Besuch ihres Gatten bei ihm im Stadthaus:

 „Er war es, dein Mann, der versucht hat, dich durch die Hand des Mädchens Antoinette zu töten. Dass er den Weg zu mir gesucht hat, das ist nun sein Pech und unser Glück! Liebste, schon morgen will ich ihn der Polizei übergeben, dann darf ich dich endlich sehen, wann immer es mich danach gelüstet!“

Schreckensbleich lauscht Madame seinen Worten. Tränen strömen über ihre Wangen. Sie weiß nicht ob sie lachen oder schreien soll. Ihr Mann, ihr Ernest. Sie kann es nicht fassen

Die Stadt ist indes in hellem Aufruhr. Die Gendarmen, angeführt von Kommissar Durand, durchsuchen jedes Haus und befragen alle Bürger nach dem Dienstmädchen Antoinette. Auch in der Rue Sauval, in der sich das Haus des Weinhändlers Bonsaveur befindet, gehen sie von Tür zu Tür. Da tritt Madame Fournier, die überaus neugierige Nachbarin von Monsieur Bonsaveur, aus ihrer Hofeinfahrt. Vor ihr bleibt so gut wie nichts verborgen, und so hat sie längst bemerkt, dass bei ihrem Nachbarn ein ihr unbekanntes Mädchen im Hof am Brunnen zum Wasser holen war. Mit geschäftiger Miene hält sie einen der Gendarmen auf und berichtet ihm von ihrer Beobachtung. Der will die lästige Alte gerade barsch abweisen, als Kommissar Durand vorbeikommt. „Was ist hier los?“, will Durand wissen und Madame Fournier berichtet erneut, nicht ohne einen triumphierenden Seitenblick auf den Gendarmen, was sie gesehen hat.

Und schon stürmen auf Geheiß von Kommissar Durand drei Gendarmen das Haus des Weinhändlers. Sie finden Antoinette in der Küche bei der Zubereitung des Abendmahls vor und unter lautem, doch nutzlosem Protest von Monsieur Bonsaveur führen sie das Mädchen ab.

Auf dem Kommissariat beginnt Durand auch sofort mit der Befragung der Verhafteten. Er gilt als äußerst unbarmherzig, und diesem Ruf wird er durchaus gerecht. Schon nach kurzer Zeit bricht Antoinette zusammen und gesteht.

Doch was der Kommissar zu hören bekommt, das treibt ihm die Zornesröte ins Gesicht. „Du willst allen Ernstes behaupten, Monsieur de Surchoix hätte dich zu diesem Verbrechen angestiftet? Du bist eine infame Lügnerin!“, schreit er Antoinette an. „Du glaubst doch nicht etwa, du könntest so deinen Kopf retten? Ab mit diesem Miststück in die Arrestzelle!“, weist er seine Untergebenen an und schickt sich an, das Kommissariat zu verlassen. Dann macht er sich auf den Weg in die Rue de l´Eglise, um Monsieur de Surchoix von der ungeheuerlichen Anschuldigung seines Dienstmädchens gegen ihn zu berichten.

Langsam löst sich Bernadettes Erstarrung.  Mit aufgerissenen Augen schaut sie auf die Gestalt, die die rostige Eisengittertür aufschließt.  Der junge Mann, der vor ihr steht, schüttelt fast unmerklich den Kopf, während er sie eindringlich anschaut.

„Komm‘ meine Kleine, wir haben eine schmucke Zelle für Dich“, meint er verächtlich und zieht Bernadette in den nassen Gang. „Ich kümmere mich um das Mädchen“, ruft er über die Schulter dem pockennarbigen Wärter zu, der sich schnell umdreht und die dunkle Treppe hinaufsteigt.

„Bernadette, sag‘ nichts, kein Wort, wir reden nachher“, wispert ihr der junge Mann ins Ohr und führt sie an Zellen vorbei, aus denen laute Rufe und Pfiffe ertönen.  Er bringt sie in ein Verlies am Ende Ganges, stößt Bernadette hinein, die auf den Boden fällt und sich in die hinterste Ecke verkriecht. „Ich bring‘ dir nachher etwas Wasser und etwas zu essen“, stößt er mürrisch hervor, nickt ihr aber aufmunternd zu und sperrt die Gittertür ab.

Wie kann es sein, dass Henry, ihr Bruder, in diesem berüchtigten Gefängnis als Wärter arbeitet? Er ist in den Krieg gezogen und nicht zurückgekommen? Er ist doch tot? Ich verstehe das alles nicht. Sie kauert sich frierend in die Ecke und wartet aufgewühlt auf die Rückkehr ihres Bruders.

Kurze Zeit später, Bernadette ist vor Erschöpfung kurz eingeschlafen, öffnet sich quietschend die Gittertür und Henry stellt den Blechnapf mit dünner Suppe und eine Schüssel Wasser vor sie hin.  

„Bernadette, wie kommst du hierher? Warte, sag‘ nichts, wir können erst reden, wenn wir auf dem Schiff sind.  Wir haben heute Nacht einen Ausbruch geplant. Es ist alles organisiert, die Wächter am Eingangstor sind bestochen und werden uns unbehelligt davonziehen lassen. Einige der Mitgefangenen und ich haben diesen Ausbruch seit Wochen vorbereitet. Wir werden in den dunklen Morgenstunden dieses Drecksloch verlassen. Iss‘ deine Suppe, damit die anderen keinen Verdacht schöpfen. Ich werde dich einfach als meine Frau ausgeben, sobald wir an Bord sind“, sagt Henry.

„Wohin segelt das Schiff“, frägt Bernadette, bevor sie den nächsten Löffel der ungenießbaren Suppe in ihren Mund führt.

„Australien“, wispert ihr Henry zu.

Und nun dürfen Sie, werte Leserin, werter Leser, entscheiden:

  • Wünschen Sie sich (1) ein mörderisch gutes Ende? Dann lesen Sie einfach unten weiter.
  • Lieben Sie es (2) intrigant und amourös? Dann lesen Sie das danach folgende zweite Ende.
  • Mögen Sie es experimentell und überraschend (3)? Dann lesen Sie das dritte Ende - ganz am Ende. 

                                                                               1.                                                                                 

Ich bringe ihn um, ich werde ihn umbringen, denkt Ernest de Surchoix. Ekel ergreift ihn, er zerknüllt das Papier, das er von der Chaiselongue genommen hatte und dessen Inhalt er zügig erfasst hatte. Jetzt ballt er seine Faust so stark, dass das Blut aus seinen Fingern weicht. Die Sohlen seiner Stiefel schlagen hart auf dem Parkett auf, während er im Gemach seiner Frau auf und ab geht. Seine Augen treten tief in die Höhlen ein, sein Blick wird wild und starr. Da hört er aus dem Entree die Tür zuschlagen und kurze Schritte kommen die Treppe hinauf. Ernest de Surchoix fährt herum. Er schaut seiner Frau in die Augen. Sie ist abgehetzt, eine Locke hat sich gelöst und kräuselt sich über ihrem Ohr. Als sie ihn sieht, zögert sie kurz, dann versucht sie zu lächeln und fragt mit heller Stimme:

„Was bitte tust du in meinem Boudoir?“ Kaum hat sie den Satz ausgesprochen, ergreifen zwei eisenharte Hände ihre Oberarme.

Sie hört sein Brüllen: „Du Hure, du Lügnerin, du…!“

Der Rest seiner Worte rauscht wie ein Dröhnen an ihr vorbei, sie erfasst seinen Blick und das Papier. Sie begreift und beginnt, am ganzen Körper zu zittern. Nichts kann sie mehr steuern, sie sieht die Kälte in seinen Augen und kann sich nicht mehr bewegen. Als er sie schüttelt, beißt sie sich die Zunge blutig, sie spürt, wie sich Puder und Haar mehr und mehr in Strähnen auflöst, dann rutscht sie weg, alles um sie herum dreht sich und von ganz weit hört sie ein Knacken. Sie glaubt, etwas Warmes läuft ihr die Stirn hinunter und schon wird alles schwarz.

Als wenig später Kommissar Durand und sein Adjutant an die Tür des Stadtpalais in der Rue de l´Eglise klopfen, sind sie verwundert, dass Monsieur de Surchoix höchstpersönlich öffnet. Schweiß glänzt auf seiner Stirn, so dass sich Durand genötigt fühlt, sich sogleich zu entschuldigen. Der Adjutant beginnt seinen Hut zu kneten.

 „Verzeihen Sie, Monsieur de Surchoix. Ich bin Kommissar Durand, das ist mein Adjutant. Wir wollten Monsieur bestimmt nicht stören, jedoch ersuchen wir Sie dringend um ein kurzes Gespräch. Wenn Sie so nett wären…“

„Messieurs, kommen Sie wegen des Unglücks meiner Schwägerin? Der Zeitpunkt ist denkbar schlecht“, ist die schroffe Antwort des Hausherren.

„Verzeihen Sie, doch wir haben ein Mädchen gefasst, die behauptet, Sie hätten sie angehalten, Ihrer Schwägerin – Gott hab sie selig und seien Sie sich unseres Beileides gewiss – ja, Sie hätten sie angehalten, ihr Gift zu verab…“

„Moment!", erdröhnt die Stimme des Hausherrn, „Was sagen sie da? Wie können Sie es wagen, mich derart zu beschuldigen? Noch dazu ohne ein vorheriges Ersuchen einer Audienz? Sie kommen einfach hierher und unterstellen mir eine derartige Tat, was erlauben Sie sich?“

Die beiden Gendarmen senken den Blick. Als der Adjutant rückwärts schreitet, tritt er dem Kommissar auf den Stiefel.

„Jetzt pass doch auf, verdammt!“, zischt Durand und an de Surchoix gewandt: „Verzeihen Sie unser forsches Auftreten Monsieur, wir werden natürlich alsbald um eine Audienz bitten.“

Ernest de Surchoix, immer noch erregt, fällt ihm ins Wort: „Sie und ich wissen genau, dass das nur eine infame Lüge sein kann! Ich werde mich umgehend an ihren Gardeoffizier wenden, dessen seien Sie gewiss!“

Als darauf die Gendarmen ihren Rückzug antreten, ahnen sie nicht, dass hinter der rotgoldenen Chaiselongue im ersten Obergeschoss der leblose Körper der Hausherrin liegt.

Es ist bereits Nacht, als die beiden Gendarmen vor den dicken Mauern des Stadtgefängnisses stehen. Durand, der längst bemerkt hat, dass etwas im Hause de Surchoix nicht mit rechten Dingen zugeht, hat beschlossen, das Mädchen Bernadette zu befragen. Irgendwie muss er es schaffen, den Direktor zu umgehen. Umso überraschter ist er, dass ihnen sofort die Türen geöffnet werden. Als sich die großen Eisentore hinter den beiden Männern schließen, merken sie, dass auf den Fluren helle Aufruhr herrscht. Wärter laufen umher, der Schein ihrer Fackeln flackert wild und formt große Schatten an die alten Mauern.

„Monsieur Commissaire, ich glaube, hier stimmt etwas nicht.“ Der Adjutant hat seinen Hut abgesetzt und hält ihn zwischen den Händen. Gerade, als Durand antworten will, sieht er den Direktor schnellen Schrittes heraneilen, gefolgt von fünf Wärtern. Ihm fällt sofort das finstere Gesicht des pockennarbigen Wärters auf. Die Stiefel des Direktors sind mit Dreck beklebt, seine Uniformjacke ist geöffnet und lässt den Blick frei auf ein fleckiges Hemd. Als er vor den Polizisten stehen bleibt, sagt er:

„Messieurs, Ihre Hilfe ist mir sehr willkommen. Hat man Ihnen schon Bescheid erteilt? Einige unserer Insassen sind geflüchtet, darunter ist auch das Mädchen aus ihrem Revier, Antoinette. Sie wurde uns heute Nachmittag auf Geheiß des Gardeoffiziers Bonplant übersandt. Jetzt ist sie weg! Wir müssen sie vor dem Morgengrauen finden – noch bevor Bonplant davon erfährt, die Zeit drängt!“

Ohne noch Gelegenheit zu haben, sich zu fragen, wie alles so hatte kommen können, werden die Gendarmen mit dem Tross der Gefängniswärter mitgezogen.

Unterdessen verlässt leise ein Boot mit drei jungen Menschen den Hafen. Zwei Mägde halten sich an der Hand. Der junge Gefängniswärter, der bei ihnen ist, lässt lautlos die Ruder ins Wasser gleiten. Im Morgengrauen besteigen sie ungesehen das Schiff, das am Ausgang des Hafens liegt.

Etwa fünf Kilometer stadtauswärts knallen zur selben Stunde zwei Schüsse kurz hintereinander. Ihr Hall verliert sich im angrenzenden Auwald, Vögel fliegen kreischend auf. Zwei Männer liegen am Boden, die sich seit Kindertagen kennen. Aus dem dunkelbraunen Haar von Gustave de Bougainville sickert langsam das Blut in den Sand. Sein lebloser Blick ist gen Himmel gerichtet.

Hundert Meter von ihm entfernt röchelt Ernest de Surchoix dem Tod entgegen. Der Schuss hat ihn unterhalb des linken Lungenflügels getroffen. Er kann nicht glauben, dass das jetzt sein Ende sein soll. Als es eintritt, beugt sich der Arzt über ihn und schüttelt den Kopf, ohne sich die Mühe zu machen, den Puls zu ertasten. Kurz darauf nehmen die Sekundanten eilig die Pistolen an sich und tragen beide Männer davon.

 

***** 

2.

Zeitgleich mit Kommissar Durand kehrt Madame de Surchoix in ihr Haus in der Rue de l´Eglise zurück. Sie bittet Durand in den Salon und weist den Diener an, umgehend ihren Gatten zu holen. Als Ernest de Surchoix eintritt, erhebt sich Durand und verbeugt sich geflissentlich.

„Was führt Sie zu uns, Monsieur le Commisaire? Haben Sie Antoinette endlich gefunden?“, beginnt Madame das Gespräch.

„Allerdings“, berichtet der Kommissar, „und Sie werden es nicht glauben, was diese Kanaille uns weismachen wollte. Sie beschuldigt allen Ernstes Sie, Monsieur de Surchoix, ihr das Gift gegeben zu haben um es Ihnen, Madame de Surchoix, zu verabreichen. Man stelle sich diese Niedertracht vor!“ 

Nun ist es an Madame genüsslich das Wort zu ergreifen. „Mein sehr verehrter lieber Monsieur le Commisaire, aus sicherer Quelle ist mir zugetragen worden, dass es sich genauso verhält, wie dieses Mädchen es ausgesagt hat. Ich bitte Sie deshalb, umgehend Ihrer Pflicht nachzukommen und meinen Gatten zu verhaften und damit mein Leben zu schützen. Denn ich fürchte, er wird es wieder versuchen“ erklärt sie sich kühl und betrachtet ihren Gatten mit eisigem Blick.

Fassungslos lässt sich Ernest de Surchoix von Kommissar Durand aus dem Salon in die Halle führen, wo ihn zwei Gendarmen in Empfang nehmen und aus dem Haus zu der wartenden Kutsche geleiten. 

Durand verbeugt sich abschließend vor Madame und verabschiedet sich. „Immer zu Diensten, Madame de Surchoix. Ich werde dafür sorgen, dass Ihr Gatte seine gerechte Strafe bekommt und Sie damit vor ihm in Sicherheit sind“.

Angelique de Surchoix bleibt allein im Salon zurück und setzt sich in gelöster Stimmung an ihren kleinen Sekretär am Fenster, um eine kurze Nachricht zu schreiben. „Mein geliebter Gustave! Es ist alles erledigt. Komm, so schnell Du kannst.“

Sie ruft den Diener, der den Brief auf schnellstem Wege und persönlich dem Adressaten überbringen soll.

Und nun lehnt sie sich zufrieden und selig in der Erwartung der schönen Zeiten, die ihr nun bevorstehen, zurück. „Ein Glück ist es doch“, sagt sie leise und lächelt amüsiert, „dass ich keinen Kaffee trinke.“

 

***** 

3.

 

In hohem Bogen wirft Andres seine Feder ins Tintenfass, dass es nur so spritzt. Verzweifelt rauft er sich mit klammen Fingern die Haare und sinkt auf seinem Stuhl in sich zusammen. Der Boden der kleinen Dachkammer ist übersät mit zerknüllten Papierseiten. Er weiß einfach nicht mehr weiter, hat sich völlig in der Geschichte verirrt.

Dabei hat alles so herrlich begonnen. Das Fest bei den Edlen von Surchoix. Das kleine himmlische Vergnügen mit Madame in ihrem Boudoir. Der gemeinsame Blick auf das Bildnis und der Auftrag für eine kleine spannende Geschichte für Madame. Die Gulden hat er gut gebrauchen können, die sie ihm zugesteckt hat. Für ein paar Tage gab es warmes Essen und Holz für den Ofen. Sogar seine Zimmerwirtin konnte er besänftigen und ihr die ausständige Miete überreichen.

Und nun das. Eine Geschichte, die einfach keine Geschichte werden mag. So viele Personen, dass selbst er den Überblick verloren hat. Und noch einmal von vorne zu schreiben beginnen, dazu hat er weder Ideen noch Lust. Denn es zieht ihn weiter. Sein Wandertrieb lässt ihn seine Siebensachen zusammenschnüren. Und nachts, als es im Hause ruhig geworden ist, schleicht er die Treppe hinunter, durch die dunklen Gassen, bis zum Hafen, wo sein Schiff wartet, das ihn nach Australien bringen wird …

 

**********    Ende **********

 

 

Eine Reihum-Geschichte, die in Corona-Zeiten von Mitte Dezember bis Ende Januar 2020/21 entstand. Es schrieben: Christine Fischer, Susanne Hölzl (Ende 3), Marion Ostler (Ende 2) und Christiane Walther (Ende 1). Idee, Anfang  und Schlussredaktion: Gesine Hirtler-Rieger

 

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