Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.

Corona-Lovestory II

Veröffentlicht am 19.02.2021

Zuviel Liebe
Ob sie etwas bemerkt hat, die Kleine? Noch vor wenigen Minuten war der hübsche Gardeoffizier im Raum. Mit Hingabe schenkte er mir eine letzte Umarmung und einen stürmischen Kuss – und flugs – war er zum Fenster hinaus. Und schon klopft sie, die Kleine. Ich, schnell auf den Sessel, alle Spitzen zurechtgezupft und die Locken wieder zurück an ihren Platz. Schüchtern, mit gesenktem Blick, stellt sie mir das Tablett auf den Schoß und macht sich daran, mein Bett zu richten. Ob sie etwas merken wird, die Kleine? Das zerwühlte Laken erzählt Bände. Ein liebestoller Geruch erfüllt den Raum. Dankbar bin ich, dass sie ohne Stimme zur Welt gekommen ist. Bei ihr ist mein Geheimnis in sicherer Verwahrung.

Fest umschließen die Hände des Dienstmädchens den Rand des Tabletts. Sie spürt den Schweiß in ihren Innenflächen und die Röte auf ihren Wangen. Mit gesenktem Blick stellt sie das Tablett auf den Beistelltisch. Sie hat Mühe, sich auf das zu konzentrieren, was sie jetzt eigentlich immer zu tun hat: das Fenster öffnen, das Bett ordnen, die Waschschüssel leeren. Ihr Herz klopft so heftig, dass sie befürchtet, Madame könnte es hören. Kann es sein, dass sie nichts merkt von ihrer Aufregung? Madames Augen liegen auf ihr, das spürt sie, aber sie wagt nicht aufzusehen. Stattdessen hastet sie zum Fenster. Beide Flügel sind bereits weit geöffnet und die kühle Morgenluft strömt herein. Verwirrt wechselt sie die Richtung und macht sich am Bett zu schaffen. Das große Kissen liegt zerdrückt auf der anderen Bettseite, die Decke ist zu einer unförmigen Wurst zerknüllt. Das Mädchen begreift nicht, hält inne. In diesem Moment der Stille hört man das zarte Klicken des Kaffeelöffels, der an die Tassenwand schlägt, als Madame umrührt. 

Der kalte Schweiß sammelt sich unter ihrer Haube. Sie spürt, wie sich Tropfen auf ihrer Oberlippe bilden. Ihr Oberkörper bebt, als sie sich über das Bett beugt, um das Kissen zu packen und aufzuschütteln. Dabei wagt sie erstmals wieder in die Richtung von Madame zu sehen. Deren Hand umgreift gerade das Wasserglas. Gedankenverloren führt sie es an den Mund.

Das Gesichtsfeld des Mädchens verengt sich. Schwärze umrahmt es. Ein hoher Ton fiept in ihrem Kopf, während die Welt zu verstummen scheint. Ihre Hände krampfen sich um das Laken, welches sie versucht, wieder glatt zu streifen. Deshalb hört sie jetzt auch nicht den Hufschlag des Pferdes auf dem Kies, welches sich dem Anwesen im flotten Trab nähert und dann in einen ruhigeren Schritt fällt.                                                                 

Madame hebt neugierig den Kopf. Das Glas hat sie hastig abgestellt. Es ist leer. Als sie sich aus ihrem Stuhl erhebt, spürt sie die Unsicherheit. Irgendetwas stimmt in ihrem Kopf nicht oder mit ihren Augen? Die Lieder sind auf einmal so schwer. Sie will nach der Armlehne greifen, sich festhalten, weil der Schwindel sie aus dem Gleichgewicht bringt. Sie fasst ins Leere. Es gibt einen dumpfen Laut, als sie zu Boden fällt.

In dem Augenblick klopft es an der Türe. Ein stattlicher Herr, gestützt auf einen Gehstock, betritt den Raum. Er sieht Madame auf dem Boden liegen, den Kopf abgewandt. Das Mädchen steht hinter ihr, vor dem großen Bett, das Laken in der Hand und den Blick gesenkt.

 „Hast du getan, was ich dir aufgetragen habe?“, fragt er.

Sie nickt heftig, den Blick noch immer gesenkt.

„Das hast du gut gemacht, Marie! Lass uns jetzt einen Moment allein. Ich möchte mich von meiner Gattin verabschieden.“

Das Dienstmädchen macht einen Knicks. Sie verlässt schnell den Raum und schließt die Türe. Doch sie geht nicht. Sie wartet neben der Türe. Sie weiß, ihr Herr wird bald ihre Dienste benötigen.

Der Mann schleppt sich müde und aschfahl im Gesicht zum Stuhl, auf dem noch vor wenigen Minuten seine Gattin, so voller Leben und in süßen Liebesgedanken schwelgend, gesessen hatte. Er ist alt. Langsam setzt er sich und sieht hinab auf den schönen Lockenkopf, den graziösen Nacken und den makellosen Körper. Er seufzt:

„Wie konntest du mir das nur antun, meine Liebe, nach allem, was ich für dich getan habe? Verwöhnt habe ich dich, dir alle Wünsche von den Lippen abgelesen. Ich habe eine ehrbare Frau aus dir gemacht. Und du hast immer betont, du würdest nur mir gehören. Ich habe dir geglaubt. Und was hast du getan? Du hast mich betrogen, mit diesem jungen Offizier der Garde. Wie konntest du nur!“

Dann erhebt er sich mühsam aus dem Lehnstuhl und geht schwer gestützt auf seinen Stock zur Türe.

Das Dienstmädchen steht bereit. Sie macht ihren Knicks und steht vor ihm, wartet auf seine Anweisung.

„Leg‘ Madame auf das Bett! Ich brauche meine Stärkung. Du hast sie sicherlich schon bereitgestellt für mich in der Bibliothek wie jeden Tag?“

Die junge Frau nickt.

„Gutes Mädchen, Marie!“, sagt der alte Mann und geht langsam die Treppe hinunter.

Die Bedienstete schließt die Türe hinter ihm. Sie geht auf den am Boden liegenden Körper zu, beugt sich über Madame. Sanft berührt sie deren Schulter.

Diese dreht sich langsam um und lächelt das Dienstmädchen an:

„Das hast du gut gemacht, Marie!“

Der voluminöse Rock behindert die am Boden Liegende. Jolanda von Halitschka versucht sich in eine bequemere Lage zu bringen. Nur das leise Knacken der Fischgratstäbe des enganliegenden Korsetts und das Rascheln der schweren Atlasseide sind zu hören, als die vermeintlich Gemeuchelte sich aufrichtet.

Sie wagt nicht Marie um Hilfe zu bitten, um jegliches Gesprächsgeräusch zu vermeiden.  In dem großen Ankleidespiegel betrachtet sie ihr soeben noch totenbleiches Gesicht, in dem sich die Wangen bereits wieder zart röten.

Sie ist eine Meisterin der Zaubertränke, doch nun bin ich in ihrer Hand, denkt sie.

Nachdenklich mustert Jolanda ihre Magd. Woher sie nur kommen mag? Sie hat einen beneidenswerten, mädchenhaften Körper, feine Gesichtszüge, grazile Gliedmaßen.  Selbst bei der Verrichtung ihrer niederen Dienste wirkt sie anmutig und edel. Stumm reicht Marie Jolanda ihre Haube und legt ihr das schwarze Cape aus Samt um.

„Geh‘ jetzt, geh‘ und verrichte deinen Dienst. Ich werde dir eine Nachricht zukommen lassen, wenn ich angekommen bin.“

Das fordernde Läuten einer Tischglocke legt sich über die Trippelschritte, mit denen Jolanda in der Tür des Wandschranks verschwindet.

***

 „Phoebus, treuer Gefährte, bei dir ist mein Geheimnis wohl verwahrt.“ Schwer liegt Heinrich von Halitschkas Hand auf dem Kopf des alten Jagdhundes. Der betagte Vorstehhund erwidert den müden Blick seines Herrn, als würde er jedes Wort verstehen. „Sie hat mich kompromittiert. Welche Wahl hätte ich sonst gehabt? Sie verstoßen, in die Gosse schicken?  Die Justiz wird erkennen, dass der Ausgang des Duells sie in den Tod trieb. Und dieser ist gnädiger als ein Leben in Armut und Schande. “

Noch bevor Heinrich zum zweiten Mal zur Glocke greift, betritt Marie die Bibliothek. Mit gesenktem Blick serviert sie ihrem Herrn den Silberbecher mit Wein, die Wasserkaraffe und die silberne Henkelschale, in der Phoebus seine tägliche Wasserration erhält.  Halitschka erhebt sich schwerfällig von seinem Sessel, um Phoebus die Henkelschale zu füllen.

Durch das geöffnete Fenster ist ein lauter Peitschenknall zu hören. Der erschrockene Hausherr stürzt zum Fenster. Die auf dem Boden hastig abgestellte Karaffe fällt dabei klirrend um. Der Inhalt ergießt sich in einer Pfütze auf die Dielen. „Marie, bekommen wir Gäste?“

Marie hat indes unter Phoebus‘ lautem Bellen die Bibliothek unbemerkt verlassen. Während Phoebus seine Aufmerksamkeit knurrend und schnüffelnd der sich immer weiter ausbreitenden Wasserlache widmet, öffnet Heinrich hastig das Fenster. Der Kutscher eines Einspänners treibt den vorgespannten Rappen wild mit der Peitsche an der Freitreppe vorbei. Heinrich erbleicht. Aus dem mit Vorhängen halb verdecktem Fenster der Kutsche flattern Haubenbänder. Es ist die Farbe der Haubenbänder, die Heinrich fassungslos machen. Altrosa, die neue Modefarbe! Altrosa Hutbänder brachte Heinrich für Jolanda von seiner letzten Geschäftsreise mit!

Kann das sein? Er greift sich ans Herz, dann packt er mit Ingrimm seinen Stock und geht mit festen Schritten durch die prächtige Empfangshalle die Treppe hoch, geradewegs ins Boudoir seiner Frau. Er tritt ein und schaut zu ihrem Himmelbett. Nichts! Seine Augen kreisen fassungslos durch das Zimmer mit den schweren Plüschvorhängen. Ein Duft von Moschus liegt in der Luft. Doch sie ist nicht da!

Wie kann das sein? Marie muss ihn getäuscht und ihr zur Flucht verholfen haben. Marie! Er stöhnt auf und ruft herrisch: „Marie!“

Eine Intrige – oder eine Farce! Der ganze Hof wird über ihn lachen! Er könnte sie auspeitschen lassen. Aber nein, das wird er niemals tun. Sie ist sein eigen Fleisch und Blut, der Kraft seiner Lenden entsprungen nach einer Nacht der Leidenschaft mit Marie-Louise. Er muss es ihr endlich sagen. Und er muss wissen, welche Rolle sie in diesem abgekarteten Spiel spielt.

***

Unten in der Bibliothek liegt Marie auf den Knien, den Rock hochgeschürzt, und wischt hektisch die verschüttete Flüssigkeit weg, die sie mit dem tödlichen Samen des Goldregens angereichert hat. Es kann sie den Hals kosten, wenn das herauskommt! Sie hat Angst, denn sie hat versagt. Wenn Madame nicht so auffällig in der Kutsche verschwunden wäre, dann hätte ihr Herr das Gift getrunken, und dann... Spielt Madame ein doppeltes Spiel? Ihr musste doch klar sein, dass sie ihre gehorsame Dienerin in Gefahr bringen würde mit diesem inszenierten Abgang. Ihre Augen irrlichtern über den kostbaren Teppich. Ich muss meine eigene Haut retten, denkt sie stumm. Mir hilft niemand, also muss ich das selbst tun. In ihr reift ein Plan.

Heinrich ist wieder in der Bibliothek erschienen. Sein Gesicht ist aschfahl, die Hand, die den Gehstock umklammert, zittert.

“Marie...“, seine Stimme klingt brüchig, “Sie ist fort. Was geschieht da? Wie kann das sein? Hast du was damit zu tun?“

Das Dienstmädchen kniet immer noch auf dem Teppich, den Rücken gekrümmt, den Kopf tief gesenkt.

„Was hast du getan?“ brüllt Heinrich in einer plötzlichen Anwandlung von hilfloser Wut. “Du weißt nicht, was du anrichtest. Alles ist verkehrt. Du gehörst mir!“ Seine Stimme überschlägt sich. „Mir, mir, mir, du Bastard und mit mir wirst du untergehen.“

Mit erstaunlicher Schnelligkeit ist er zu dem Mädchen getreten. Sein Gehstock schießt vor und trifft Maries Rücken mit einem dumpfen Schlag. Ihr Körper zuckt zusammen unter dem Schmerz, aber fast im gleichen Moment fährt sie herum. Blitzschnell, wie ein aufgeschrecktes Tier, reagiert ihr Instinkt. Sie greift nach dem Stock und reißt daran. Überrumpelt stolpert ihr Herr vor und kracht ungebremst zu Boden. Das Knacken hören beide nicht mehr. Marie ist schon zur Bibliothek hinaus und der alte Herr in tiefe Schwärze versunken.

In der Küche macht sich ein Dienstbote zu schaffen, als Marie auf ihn zustürzt und ihn mit sich zerrt. Ihre Gesten sind so erregt, dass er ihr, ohne zu zögern folgt. Als er sich über seinen Dienstherrn beugt überkommt ihn das kalte Grauen. Die alten Augen starren ins Leere.

***

Langsam schließt Gaston die Augen des Toten. Dann fällt sein Blick auf die zerbrochene Wasserkaraffe, die Glasscherben auf dem Boden und die Wasserlache.  Daneben eine Schürze, mit der Marie wohl das Verschüttete hatte aufwischen wollen. Etwas abseits liegt der Gehstock des Herrn. Gaston blickt hoch und sieht vor sich die am ganzen Körper zitternde Marie. Seine Augen wandern zu ihrem Gesicht, treffen ihre Augen. Sie sind himmelblau.

Marie starrt zurück. Dann erschrickt sie. Nein, das kann nicht sein. Der Mann vor ihr trägt die Kleidung eines Dieners. Er ist doch ein Bediensteter? Und doch ist ihr, als ob er es war, den sie am frühen Morgen aus dem Fenster von Madames Schlafzimmer hatte klettern sehen, gekleidet in Weiß. Marie erblasst, ihr Hals ist wie zugeschnürt.  Verzweifelt sieht sie um sich, wohin kann sie nur fliehen?

Die ganze Zeit bleibt der Blick des jungen Mannes auf ihr gehaftet, verfolgt ihre Veränderung.  Ganz ruhig sagt er nun zu ihr:

„Marie! Dich trifft keine Schuld! Der alte Herr ist auf dem nassen Boden ausgerutscht. Das ist doch ein Unfall! Beruhige dich! Ruh‘ dich ein wenig aus, ich kümmere mich um alles hier.“

Marie steht noch immer vor ihm, stumm und blass. Was sagt er da nur? Er ist es doch, der Geliebte der Madame. Er ist der Grund, warum die Herrin all das von ihr verlangt hat. Wie kann er nur sagen, dass er ihr helfen wird, ihr, einer Bediensteten! Die Panik steigt in ihr hoch. Was soll sie nur tun? Was kann sie tun?

Gaston scheint zu spüren, was in ihr vorgeht. Sachte fasst er ihre Hand, umschließt sie mit seinen beiden Händen.

„Vertraue mir, Marie. Das ist deine Chance – unsere Chance“, fügt er hinzu und sieht tief in ihre Augen.

Marie nickt. Aber kann sie das? Kann sie ihm wirklich vertrauen?

Widerstandslos lässt sich Marie in das Schlafgemach ihrer Herrin führen. Aus den zerwühlten Kissen, aus der Kuhle der Bettpolster, aus allen Ritzen der getäfelten Wände scheint Jolandas Parfümduft zu strömen.

Gaston führt Marie vor den Ankleidespiegel. Das Bild einer verzweifelten jungen Frau lässt Marie aufschluchzen. Als sie ihr Gesicht in ihren feingliedrigen Händen vergräbt, löst Gaston sanft ihre Finger: „Sieh hinein!“

Marie blickt in Gastons braune, warm lächelnde Augen. Zärtlich berühren seine Wangen Maries tränenfeuchte Haut: „Marie, sieh hinein!“

Behutsam dreht er Maries Kopf seitlich, schiebt sich neben sie, wischt ihre Haarsträhnen aus dem Gesicht: „Sieh hin!“

Der Spiegel gibt das Profilbild zweier junger Menschen wieder, deren Konturen identisch sind. Den Kopf leicht drehend versucht Marie, das Gesamtbild aufzunehmen. In ihrem Blick liegt fassungsloses Erstaunen.

„Ja, Marie, du bist meine Schwester. Wir haben eine gemeinsame Mutter. Komm‘ weg von hier. Jolanda erwartet uns an dem Ort, wo unsere Familie zerstört wurde. Ich bringe dich dahin, wo du Entsetzliches erlebt hast. Ich werde dir von dem Tag des Grauens erzählen, an dem du zu sprechen aufgehört hast. Und du wirst dich erinnern. Jolanda und ich werden dir helfen, heil zu werden. Komm kleine Schwester. Komm weg von hier, noch bevor die Gendarmen Halitschka finden. Heinrich von Halitschka, eine Ausgeburt des Bösen, besessen von Macht und Geldgier. Er hat unsere Mutter in den Tod getrieben. Er hat ihre Not schamlos ausgenutzt. Mich, ihren Erstgeborenen, hat er für tot erklären lassen, nachdem mein Vater bei der Jagd verunglückte. Ein Unglück, das Halitschka eingefädelt hatte. Es war seine Idee, mich, der ich noch ein kleiner Junge war, erstmals zu dieser Jagd mitzunehmen Sein Plan wäre beinahe aufgegangen, als er mich in die Tiefen des undurchdringlichen Böhmerwaldes trieb, um mich dort verhungern zu lassen. Doch fand ich warmherzige Menschen, die sich meiner annahmen. Ich wiederum fand Jolanda, aber das ist eine eigene Geschichte “

Marie hört die letzten Worte nicht mehr. Noch bevor sie niedersinkt, umfängt der Bruder die Ohnmächtige. Dank Heinrich Halitschkas wohldurchdachter Entscheidung, den Dienstboten einen freien Tag zu geben, gelingt es Gaston, Marie unbemerkt über den Gutshof bis zu dem angrenzenden Wäldchen zu tragen.

„Danza, du Guter, auf dich ist Verlass.“ Gaston tätschelt liebevoll den Hals des freudig schnaubenden, gesattelten Arabers. „Du trägst heute eine wertvolle Last und wir müssen uns beeilen.“

***

Dumpf hallt der Hufschlag, ein Käuzchen schreit. Marie hat die Augen geschlossen, der leichte Trab hat sie in den Schlaf gewiegt. Warm hüllt der Geruch des dampfenden Pferdes sie ein und schützt sie vor der Eiseskälte des nächtlichen Waldweges. Seit geraumer Zeit hat kein Fuhrwerk mehr ihren Weg gekreuzt, die Bäume behüten sie. Die Bäume und Gaston, um den Marie die Arme geschlungen hat, an dessen Rücken ihr Kopf liegt. Gaston lenkt den Araberhengst behutsam durch Dickicht und Gestrüpp. Unaufhörlich späht sein Blick in die Finsternis, die nur durch den glimmenden Kienspan in seiner Linken spärlich erhellt wird.

Ein großer Schatten schwebt über ihnen. Wachsam blickt Gaston nach oben. Aber es ist nur eine Eule, die mit weit aufgespannten Flügeln über sie hinweg gleitet, auf der Suche nach einer schmackhaften Maus. Der Hufschlag wird weicher, das Moos auf dem Weg dämpft alle Geräusche.  Sie erreichen eine Lichtung, und plötzlich erhellt sich der Nachthimmel. Durch den Dunst schiebt sich der halbe Mond in den Nachthimmel hinauf und schickt sein warmes Licht hinunter.

„Mond, treuer Geselle, du bist auf unserer Seite!“, sagt Gaston leise und schnalzt mit der Zunge, um das Pferd anzutreiben. „Leuchte uns nach Hause, dort, wo alles begann.“  Er denkt an das Märchen vom geraubten Mond, das ihnen die Mutter wieder und wieder erzählte. Jetzt haben es die Geschwister endlich in der Hand, dass sich das Blatt zum Guten wendet. Der Alte tot. Jolanda auf ihrer Seite. Nun kann das Unrecht gesühnt werden, wenn...

Ein dunkles Hindernis schiebt sich dem Pferd in den Weg. Gaston schreckt aus seinen Gedanken hoch. Danza bleibt ruckartig stehen und schnaubt, aus seinen Nüstern dringt weißer Atem.

„Wer da!“, ruft Gaston so laut und grimmig, dass Marie aus dem Schlaf gerissen wird. Vor ihnen auf dem Waldweg steht ein Mann. Marie ist hellwach, furchtsam tastet sie nach dem kleinen Messer in ihrem Mieder, das sie stets bei sich trägt.

„Habt keine Furcht, ich bin es!“, hört sie da die raue Stimme des Menschen bellen.

„Ach, du, Kasimir! Beinahe hätte ich mein Schwert gezogen! “, sagt Gaston erleichtert. „Nun denn, dann sind wir fast da!“

Marie späht vorsichtig hinter Gastons Rücken nach vorne. Die Lichtung hat sich geweitet, der Wald schließt sich hinter ihnen. Sie starrt und kann kaum fassen, was sie da sieht.

Das Herrenhaus vor ihnen ist im Mondlicht deutlich zu erkennen. Es ist kleiner, deutlich älter, aber es ähnelt dem, von welchem sie geflüchtet waren, auf verblüffende Weise. Schlanke Fenster gliedern die schlichte Fassade. Das Dach ist ungewöhnlich spitz, kurz die breite Eingangstreppe, die zum hohen Tor führt.

Gaston hat das Pferd gezügelt, und so verharren sie für einen kurzen Moment im Anblick dieser Erscheinung. Marie hört das Lächeln in seiner Stimme, als er in die Stille hinein flüstert: „Erstaunlich, nicht wahr kleine Schwester? Auch für mich - immer wieder.“

Danza streckt seinen Hals. Das Zaumzeug klirrt leise, als er den Kopf schüttelt. Gaston lässt die Zügel locker und das Pferd trabt zügig auf das Haus zu. Vornehm knirscht der feine Kies unter den Hufen.

In der Eingangshalle kommt Jolanda auf sie zu. Ihr offenes Haar fließt ihr über die Schultern bis zu den Hüften. Ein schwerer Morgenmantel bedeckt ihren Körper. Maries Kopf sinkt gegen ihre Schulter. Wärme und der Geruch von Schlaf berührt sie. Schlafen, schlafen und vergessen. Zärtlich legt Jolanda den Arm um sie und führt sie die Treppe hinauf. Marie ist wie in Trance. Sanft bettet Jolanda sie zwischen weiche Decken, löst ihr das wollende Tuch von den Schultern und öffnet die Schnüre ihres Mieders. Marie spürt ihre feinen Hände, wie sie ihre Stirn und Wange streicheln.   Jolandas Atem streift ihr Gesicht, als sie ihr beruhigende Worte ins Ohr flüstert.

***

Angekleidet liegt Gaston auf dem Bett. Die Dinge haben sich anders entwickelt, als es geplant war. Wenn man den toten Heinrich findet, Jolandas und Maries Abwesenheit bemerkt ist, was wird dann geschehen? Auch nicht geplant war die Liebesnacht mit Jolanda. Sie waren Verbündete was Marie betraf. Er wollte sie finden, Jolanda wollte Marie bei sich haben. Dann hatte er sich verführen lassen. Nicht ungern! Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Was für eine ungewöhnliche Nacht mit einer ungewöhnlichen Frau. Aber er traut ihr nicht. Sie gab sich leidenschaftlich, von Liebe war nicht die Rede. Sie wollte fort von Heinrich, schwärmte für Marie auf eine Weise, die ihn befremdete. Und dann ist da noch die Geschichte mit dem Duell, in dem Heinrich einen Gardeoffizier getötet haben soll. Es ist kompliziert geworden. Er will das entwirren und verstehen, und er braucht einen neuen Plan.

Bevor Gaston seine Gedanken zu Ende führen kann, öffnet sich die Türe und Jolanda schwebt herein. Ihr Haar ist noch immer verführerisch offen, und in jeder Hand trägt sie einen Pokal aus Kristallglas gefüllt bis an den Rand mit köstlichem Rotwein. Schelmisch lächelnd streckt sie ihre rechte Hand aus und hält ihm das Glas hin. Gaston nimmt es, wobei er ihre Hand festhält, schließt die Augen und riecht daran:

„Was für eine Blume! Dein Geschmack ist vorzüglich!“

Damit stellt er das Glas spielerisch auf den kleinen Tisch neben dem Bett, nimmt ihr das andere Glas aus der Hand und setzt es daneben ab.

„Ich bin verrückt nach dir, meine Liebe!“ Und er zieht sie an sich. Unbemerkt von Jolanda, vertauscht er hinter ihrem Rücken blitzschnell die beiden Pokale.

„Lass uns auf das Gelingen unseres Vorhabens anstoßen! Die beiden Frauen, die mir so sehr am Herzen liegen, sind beide gerettet!“ Er hebt zuerst das Glas hoch, das am weitesten von ihm entfernt ist und gibt es Jolanda, das andere nimmt er selbst.

Als er den ersten Tropfen des köstlichen Getränks auf der Zunge zergehen lässt, bemerkt er, wie ihn Jolanda dabei ansieht und dann selbst einen tiefen Zug davon nimmt. Gaston prostet ihr zu, nimmt genießerisch einen weiteren Schluck und sieht zu, wie die Schöne das Glas leert. Jetzt trinkt auch er zu Ende.

Schon bald fängt die Verführerin an zu gähnen, der junge Mann tut es ihr gleich: „Dieser Wein hat eine vortreffliche Wirkung. Ich bin so müde.“ Damit sinkt er in die weichen Kissen und zieht die Frau mit sich.

Nach kurzer Zeit erhebt sich Gaston. Vorsichtig zieht er seinen Arm unter Jolanda hervor und bettet diese sanft auf das Bett. Er horcht an ihrer Brust. Sie schläft tief und fest. Zum Glück versteht Gaston auch etwas von Kräuterkunde und weiß, wie man einen tiefen Schlaf herbeiführen kann, ohne den Betreffenden zu töten.

Schnell erhebt er sich, geht in das Gemach von Jolanda und findet dort seine schlafende Schwester vor. Marie wurde betäubt. Welches Spiel spielt Jolanda?

Gaston geht an ihren Sekretär. Das Geheimfach ist offen und ein Stapel Papiere und Briefe liegt darin. Obenauf ein Dokument, dessen Umschlag, offensichtlich hastig aufgerissen, daneben liegt. Es ist ein Schreiben von Heinrich an seine Frau, geschrieben und versiegelt am Tage seines Todes. In dem Brief tut er ihr seinen letzten Willen kund.  Er bittet sie, sich Maries anzunehmen, die seine Tochter ist und der er furchtbares Leid und Unrecht angetan hat.

Jolanda hat also heute erst erfahren, dass Heinrich Maries Vater ist, schießt es Gaston durch den Kopf. Er selbst hatte es ihr nie gesagt und auch nicht, dass er Maries Halbbruder ist. Jolanda hatte ihn beauftragt, Marie zu schützen, was immer auch geschehen möge, und er hatte nur zu gerne in diese Abmachung eingewilligt.

Langsam öffnet sich die Türe. Leise tritt Kasimir ins Gemach:

„Mein Herr, Ihr und Eure Schwester seid hier nicht sicher! Ihr müsst gehen! Das soll ich Euch geben, von jemandem, der auf Euch wartet.“, damit überreicht er Gaston einen Umschlag. Erstaunt öffnet dieser das Kuvert und entnimmt ein gefaltetes Blatt Papier. Es ist ein Brief – ein Brief von Marie-Luise. Sie lebt!

„Mein geliebter Gaston, mein Sohn, um den ich so viele Jahre getrauert habe, ohne zu wissen, dass Du noch lebst. Tief in meinem Herzen habe ich immer gefühlt, dass ich Dich nicht verloren habe. In meinen Träumen habe ich Dich gesucht, so wie in meinem Leben, weil ich nicht glauben konnte, dass Du an jenem unseligen Tag der großen Jagd einfach verloren gegangen bist, verschwunden, im Dickicht des ewig singenden Sumava. Als Heinrich Halitschka, der sich nicht nur das Vertrauen Deines Vaters erschlichen hatte, sondern auch meines, den leblosen Körper meines geliebten Mannes in das Herrenhaus brachte, war ich von Sinnen vor Schmerz. Die Nachricht, dass auch Du im Taumel der Geschehnisse verloren gegangen bist, raubte mir den Verstand. In meiner Verzweiflung klammerte ich mich an Heinrich, unsren scheinbar langjährigen Freund, Deinen Paten. Er hatte, wie ich erst viel später erfahren habe, den Sattelgurt des Pferdes Deines Vaters präpariert. Er kannte die ungezügelte Lust Deines Vaters bei der Jagd, seinem Pferd die Sporen zu geben, sodass ein unvorhergesehenes Ereignis folgenschwere Konsequenzen haben würde. Halitschka war in großen finanziellen Schwierigkeiten und sein Plan ging auf. Ich war zu jung, zu unerfahren und zu verängstigt, um Heinrich zu durchschauen. Aus seiner vermeintlichen Hilfsbereitschaft und Treue wurde ein Werben, dem ich in meiner Verlorenheit nachgab. Ich wurde seine Frau, Heinrich Halitschka der neue Herr der Güter von Vyšší Brod. Ich versuchte das Geschehene zu vergessen, zumal mir Heinrich verbot, weiterhin Getreue aus der Gefolgschaft deines Vaters mit der Suche nach dir zu beauftragen. Es wäre nicht gut für die Gesundung meiner wunden Seele, begründete er seine Entscheidung. Als ich neues Leben in mir heranwachsen fühlte, fügte ich mich seinem Willen. Marie wurde geboren und ich erzählte ihr immer wieder von Dir, Gaston, der nie ihr großer Bruder sein konnte. Ich erkannte bald, dass Halitschka mich nur geheiratet hatte, um sich finanziell und gesellschaftlich zu etablieren. Er entzog mir nach und nach sämtliche Rechte, die mir im Zusammenleben mit Deinem Vater selbstverständlich waren. Er verbannte mich in den Dienstbotentrakt und behandelte mich schlechter als seine Hunde. Gelegentlich sah er nach Marie, doch wurde ihm die Begegnung mit seiner Tochter bald lästig und schließlich stellte er seine Besuche ganz ein.                                                                                                                Es war Maries 6. Geburtstag, als ich in der Sattelkammer nach einem geeigneten Sattel suchte, um für Marie ein Pony zu zäumen. Da sah ich ihn liegen, den Sattel Deines Vaters. Als ich die eingeschnittenen Sattelgurte entdeckte, wusste ich schlagartig, was damals passiert war.

Während ich noch fassungslos die eingeschnittenen Gurte betrachtete, betrat Heinrich die Sattelkammer. Meine Anklage war ein Flüstern:“ Du warst es, Du hast die Gurte eingeschnitten. Ich werde Dich vor Gericht bringen“ Heinrich packte mich voller Verachtung an den Schultern und schüttelte mich: „Du, du wirst nichts tun, das werde ich zu verhindern wissen.“ Und er schlug mir mit der ganzen Kraft, zur der er fähig war, ins Gesicht. Ich sah Marie. Sie stand an der Tür zur Sattelkammer, und ich hörte ihr gellendes Schreien, bevor ich das Bewusstsein verlor. So konnte nur der Schrei des Todes klingen.

Es war das letzte Mal, dass ich mein Kind sah. Als ich wieder zu mir kam, war ich im Kloster von Harroida. Wenn ich meine Verzweiflung herausschrie, nach meinen verlorenen Kindern weinte, flößten mir die Nonnen von Harroida ein bitteres Gebräu ein und ich versank wieder in den Schlaf des Vergessens. Doch dann kam Jolanda.

Ich erzählte ihr von Heinrich, was er mir angetan hatte. Alle, die ich liebte, hatte er mir genommen: meinen Mann, meine Kinder. Alle, die ich liebte, waren tot. Jolanda beruhigte mich, versprach, Heinrich werde für seine bösen Taten zur Rechenschaft gezogen.  Dann versank ich wieder in den Schlaf des Vergessens. Als ich aufwachte, war Jolanda verschwunden.

Kasimir, mein treuer Diener, schickte mir Nachricht, dass du lebst, mein Sohn! Du musst kommen und mich holen. Ich liebe dich, mein Sohn, und kann es kaum erwarten, dich in den Armen zu halten.“

Gaston sieht hoch. Kasimir steht noch immer in der Tür.

„Kasimir, erzähl mir, was du weißt. Ich muss es wissen!“

Kasimir blickt ihn an und antwortet bedächtig: „Ich kenne die Äbtissin des Klosters Harroida. Vor vielen, vielen Jahren als ich meine erste Stelle antrat, kümmerte ich mich um die Tochter meines Herrn, ein kleines Mädchen, das ohne Mutter aufwuchs. Wir wurden Freunde, die sich alles erzählten, über alle Standesunterschiede hinweg. Als ihr Vater sie verheiraten wollte, entschied sie sich dagegen und wählte das Kloster. Ich wollte nicht mehr in dem Haushalt bleiben, nachdem Christine, so hieß sie, gegangen war und so kam ich in den Dienst der Eltern deines Vaters und blieb bei ihm, als er der Herr des Hauses wurde und deine Mutter heiratete.  Ich mochte deine Eltern und war erschüttert, als dein Vater starb. Später wurde ich heimlicher Zeuge, als deine Mutter Heinrich entlarvte und er sie zu Boden schlug. Dann schrie deine Schwester. Ich betrat die Sattelkammer. Heinrich bedeutete mir, dass seine Frau gestürzt war und sich schwer verletzt hatte. Sofort rief ich nach anderen Bediensteten, damit Heinrich ihr nicht noch mehr antun konnte, und schickte Nachricht ins nahegelegene Kloster von Harroida. Ich wusste, dass die Nonnen der Heilkunst kundig waren.

Zu meiner Überraschung kam die Äbtissin selbst, es war Christine. Ihr vertraute ich an, was geschehen war und wir schmiedeten einen Plan. Die Nonne informierte Heinrich, dass Marie-Luise ihr Gedächtnis verloren hatte und sich im Zustand der Verwirrung befand. Sie würde nie mehr gesunden und bedürfe der Pflege. Heinrich stimmte zu, seine Frau ins Kloster bringen zu lassen. Einige Monate später sandte ihm die Äbtissin ein Schreiben, dass seine Frau gestorben sei.  Wie wir erwartet hatten, bat Heinrich, Marie-Luise im Kloster zu beerdigen. Ich verblieb weiter in den Diensten von Heinrich, denn ich wollte Marie nicht sich selbst überlassen.

Jolanda kam als junge Novizin ins Kloster. Ihr wurde die Pflege von Marie-Luise übertragen. Die Äbtissin gestattete mir, einmal im Jahr Marie-Luise zu besuchen. Als ich im Garten wartete, bis man deine Mutter zu mir brachte, sah ich im glasklaren Wasser des kleinen Baches, der direkt durch den Klostergarten führt, das Spiegelbild einer jungen Nonne. Als ich mich umdrehte war sie verschwunden. Die Oberin sagte mir später, dass dies Jolanda gewesen war. Sie hätte sie gerügt, da sich die Nonnen ohne ihre Erlaubnis nicht zeigen durften. Jolanda hatte ihr versichert, dass der Mann im Garten sie nicht gesehen hatte, da er ihr den Rücken zugewandt hielt. Mit ihrem Verhalten hatte Jolanda das Misstrauen der Äbtissin geweckt, zumal man ihr auch zugetragen hatte, dass Jolanda zur Vertrauten deiner Mutter geworden war. Bevor jedoch meine Freundin der Sache auf den Grund gehen konnte, verließ Jolanda bei Nacht und Nebel das Kloster.

Ich war sehr überrascht, die junge Frau eines Tages unter anderem Namen an der Seite von Heinrich zu sehen. Sie trug keine Nonnentracht und Haube mehr, aber ich erkannte ihr Gesicht. Von da an war ich auf der Hut, Maries und Eurer Mutter wegen. Was für Absichten Jolanda hat, weiß ich nicht.“

Gaston nickt nachdenklich: „Wie hast du MICH erkannt, Kasimir? Auch ich galt als tot.“

„Es ist Euer kleines Mal auf der rechten Schulter, in der Form eines Herzens, mein Herr“, antwortet Kasimir und ein kleines Lächeln huscht um seinen Mund.

„Mein kluger Kasimir! Du musst mir noch einen Dienst erweisen. Spanne die Kutsche an und bringe Marie bei der Äbtissin in Sicherheit. Ich werde mich Jolanda stellen und ihr Geheimnis lüften!“, antwortet Gaston und grübelt: WARUM lächelte Madame, als ich sie am Morgen verließ?

***

Meine Lieder sind schwer, die Augen wollen sich nicht öffnen lassen. Mein Körper fühlt sich so leblos, wie ein Stein an. Kein Gedanke bildet sich in diesem zähen Bewusstsein. Ich muss wieder eingeschlafen sein, denn als ich jetzt blinzle, blendet mich das Tageslicht. Gaston sitzt neben mir auf dem Bett, die Beine ausgestreckt. Als er mein Erwachen bemerkt, hebt er seine Hand und streicht über mein Haar. Ich bin so müde und erschöpft. Noch immer spüre ich meinen Körper nicht. Unbeweglich bleibe ich liegen. Nichts möchte ich denken oder tun, nichts.

„Jolanda“, seine Stimme ist leise, aber eindringlich. „Uns bleibt vielleicht nicht mehr viel Zeit. Sprich mit mir, erklär‘ mir, was du willst.“

„Alles“, entfährt es mir. Das Wort knallt aus meinem Mund wie der Korken aus der Flasche, und mit ihm fließt ein Schluchzen heraus wie durch den schmalen Flaschenhals die Flüssigkeit stoßweise hervorquillt. Vielleicht ist es das Schlafmittel, welches mich enthemmt. Ich kann nicht sprechen, so sehr schüttelt mich der Weinkrampf. Alles strömt heraus, was da hinein gesperrt worden war: Ohnmacht, Wut, Trauer über das ungelebte Leben, die Lügen und die verlorene Liebe.

Gaston ist näher gerückt. Seine Hand bleibt auf meiner Schulter liegen. Ruhig und fest liegt sie dort. Er wartet, flüstert ab und zu beruhigende Worte. Es dauert wohl länger als wir Zeit haben, bis der Druck in mir nachlässt und das Schluchzen verebbt. Schlecht bin ich! So gierig und hungrig von Anfang an. Meine Stimme ist tonlos, als ich zu sprechen beginne:

„Ich bin ins Kloster gegangen, weil ich mich vor meiner eigenen Lebenslust fürchtete. Von klein an fühlte ich mich zu allem leidenschaftlich hingezogen, seien es die duftenden Blumen in unserem Garten, sei es zu meinem schönen Reitpferd, auch zu dem kleinen Diener und meinem Kammermädchen, den edlen Stoffen, mit denen mein Vater handelte, der glitzernde Schmuck meiner Mutter... Alles, alles war so überwältigend, so dicht, so schön. Mir zerriss es das Herz – damals. Eigentlich war ich ständig im Ausnahmezustand. Man war befremdet von meinem Verhalten. Meine Eltern fühlten sich sogar abgestoßen. Dann kam die Traurigkeit, und die war nicht minder anstrengend für mich und mein Umfeld. Das Kloster sollte mich bändigen. Verschenken wollte ich mich an das Gute und Höhere. Aber dort gab es nichts zu verschenken. Keiner wollte meine Gaben. Stille sollte sein.

Als deine Mutter zu uns kam, Gaston, und ich ihre Geschichte hörte, sah ich meine Chance, noch einmal ins Leben zurück zu kehren. Ich verschwand aus dem Kloster, stellte mich Heinrich vor, der mich sogleich pflückte, verwöhnte und blind in seiner Eitelkeit meinte, ich hätte ihn gewählt. Ich vergaß Marie Luise und schwelgte in dem reichen Leben, bis ich seiner überdrüssig wurde. Die kleine Marie hatte ich ins Herz geschlossen, und sie wurde meine Verbündete als ich begann, Heinrich zu betrügen. Dann kamst du, Gaston, und wolltest sie...Ich war ja nicht blind, ich habe gesehen und gespürt, dass zwischen euch eine besondere Verbindung ist. Alles wollte ich, aber vor allem fort von Heinrich, mit Marie und nicht gleich wieder in die Arme eines anderen Mannes. Und Marie soll nicht in das Kloster. Das darfst du nicht tun, Gaston, bitte. Ich weiß nicht, wie es weiter gehen soll. Ich kann jetzt nicht mehr weiter. Lass mich einfach liegen. Irgendwann verschwinde ich.“

Gaston schweigt. Im Zimmer ist es totenstill. Die Zeit vergeht. Jetzt erhebt er sich, beugt sich über mich, liebkost wieder mein Haar. „Wie stark du bist, Jolanda, wie seltsam und wunderbar. Ich möchte dich näher kennen lernen, dich und deine wunderbare Welt. Jetzt aber muss ich erst meine Mutter wiedersehen und für Marie sorgen. Es wird wohl länger dauern, bis ich zurückkomme. Vielleicht kannst du hierbleiben, Kasimir wird bald zurück sein“.

Er wartet. Ich schweige.

„Vertrau mir Jolanda, ich möchte dich nicht festhalten. Heute früh hast du so seltsam gelächelt. Was hatte das zu bedeuten?“

Endlich wende ich mich ihm zu und blicke ihm direkt in die Augen.

„Du warst es, dein Anblick, deine Zärtlichkeit, unsere Nacht, die Schönheit des Augenblicks. Geh nur, warte nicht auf mich. Ich weiß nicht, ob ich noch hier bin, wenn du zurückkehrst.“

Gaston lächelt, als er hinaus geht und die Türe schließt. 

Eine Reihum-Geschichte, die in Corona-Zeiten von Mitte Dezember bis Ende Januar 2020/21 entstand.

Es schrieben: Doris Kronawitter, Renate Riendl, Meike Ziegler, Gesine Hirtler-Rieger.  Anfang: Susanne Hölzl; Ende: Meike Ziegler; Schlussredaktion: Renate Riendl & Gesine Hirtler-Rieger

Cookie-Regelung

Diese Website verwendet Cookies, zum Speichern von Informationen auf Ihrem Computer.

Stimmen Sie dem zu?