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Der Fremde - ein Gruppenroman

Veröffentlicht am 25.07.2014

Sechs Frauen haben an einem Juni-Wochenende am Ammersee diesen Gruppenroman geschrieben

 

1. Kapitel

 

„Pah, voll fett!“

Mit einem lauten Krachen ließ Kira die Wohnungstüre hinter sich  zuknallen,  um sich dann aufatmend gegen sie zu lehnen. Geschafft! Gerade war sie mit diesem Lukas aus dem Erdgeschoss an der Haustüre zusammen gestoßen. Wie der sie wieder angesehen hatte! Kira konnte sich nicht verstehen. Sie, die mit jedem über alle Themen auf dieser Welt reden konnte, die jedwede Anmachsprüche mit einer flapsigen Bemerkung und einem spöttischen Lächeln vom Tisch fegen konnte - in der Nähe von Lukas verwandelte sie sich in ein sprachloses, stupides Etwas. Was hatte der nur an sich, um diese Reaktion in ihr auszulösen. Na ja, gut schaute er aus mit seinem braunen Teint und den schwarzen Haaren. Ein Lichtblick in diesem drögen Passau. Aber durch sein „Salve“ bei jeder Begegnung fühlte sie sich stets verarscht, so als würde er sie huldvoll begrüßen und sie hätte gefälligst dankbar dafür zu sein. Wie gerne würde sie ihm einen Denkzettel verpassen – aber was und wie! Hastig wischte sie sich über die Stirn, um die unliebsamen Gedanken zu verscheuchen. Genug damit.

Schnell stellte sie den Wasserkocher an und goss sich ein Haferl Nescafe auf. An die bayerischen Haferl könnte sie sich gewöhnen, die hatten ihr schon bei den ersten Besuchen bei ihrem Vater in der niederbayerischen Provinz gefallen. Endlich eine Kaffeeportion, die ihrem Durst entsprach. Mit fünf Stück Zucker ein paarmal umgerührt –mmh, köstlich! Im Gehen schlürfte sie  vorsichtig ein paar Schlucke des kochend heißen Gebräus mit ihren blutrot geschminkten Lippen vom Rand und schaltete ihren PC ein.

„Marvin, bist du schon zu Hause?“

Die Wohnung wirkte leer. Tatsächlich war ihr Bruder nirgends zu finden. Hoffentlich trieb er sich nicht wieder mit diesen komischen Typen aus der Hacklberger Gegend herum. Seine neuen Freunde gefielen Kira überhaupt nicht. Wenn sie mit ihnen zusammentraf,  gaben sie sich freundlich und kameradschaftlich, aber ihr inneres Warnsystem stand auf Vorsicht, und das hatte sie noch nie getrogen. Sie musste mit ihm reden. Und zwar bald.

Müssen! Oft, wenn ihre Gedanken in die Vergangenheit wanderten, stand das Wort „müssen“ übergroß über ihrem ganzen Leben. Ihr müsst leise sein! Du musst auf deinen Bruder aufpassen. Kira, du musst einkaufen, kochen, saugen, waschen oder was auch immer. Niemals hieß es: Kira, du darfst heute mal trödeln, spielen, mit Freundinnen quatschen. Solange sie denken konnte, war Mutti immer krank gewesen. Ihre Leiden waren so zahlreich gewesen, dass Kira gar nicht mehr wusste, an welchem sie letztendlich gestorben war.

Erst danach, die letzten paar Jahre sogar etwas intensiver, hatte sie ihren Vater bei ihren Besuchen mit Marvin in Passau richtig kennen und lieben gelernt. Er war nicht der lieblose Rabenvater aus den Erzählungen ihrer Mutter,  der ihre Kindheit mit einem grauen Schleier überdeckt hatte, nein er war zuletzt ein ernst zu nehmender Gesprächspartner, ein beratender Freund, ein hilfreicher Unterstützer, aber vor allem auch ein lustiger Begleiter bei ihren nächtlichen Exkursionen gewesen. Und das bei seinem Beruf! Aber jetzt war er tot und obwohl sie – gemessen an ihrer Kindheit - nur einen Bruchteil der Zeit mit ihm verbracht hatte, waren die Minuten mit ihm der kostbarste Besitz geworden. Dieses wunderbare Lachen, diese Präsenz, sein Aussehen, alles an ihm gefiel ihr, nicht ahnend, dass sie sein weibliches Ebenbild darstellte. Auch er sah in ihr nicht nur seine Tochter, er weihte sie in seine Geschäftsvorgänge ein, besprach Neuerungen mit ihr und ließ sie auch an makabren Details seiner Arbeit als Bestatter teilhaben. Oft konnten sie sich ausschütten vor lachen, bis Tränen in ihre Augen schossen. Beide hatten sie einen ähnlichen Sinn für Humor. Der Vater trug von Berufs wegen immer einen dunklen Anzug mit Hemd und schwarzer Krawatte, Kira hätte nicht besser zu ihm passen können. Mit ihren schwarzen Haaren, dem blassen Teint und ihren schwarzlackierten Fingernägeln hätte sie fast „Kundschaft“ für ihn sein können, wie er einmal scherzhaft zu ihr gesagt hatte. Er war stolz auf sie gewesen.

Kiras Traum war es seit Jahren gewesen, eine Elitehochschulen in London zu besuchen um dort ihren Abschluss in Internationalem Management zu machen. Jeden Cent hatte sie gespart und für ihr großes Vorhaben  zur Seite gelegt. Jetzt war sie zur Mitbesitzerin eines alteingesessenen, gut florierenden Bestattungsunternehmens in der Passauer Neuburgerstrasse geworden. Ganz klar war ihr bis heute nicht, ob dies ein Glück für sie war oder Ballast. Aber sie hatte bald erkannt, dass ihre nicht unerheblichen Einkünfte ihr Londoner Abenteuer in erreichbare Nähe rücken würde. Zum Glück hatte sie keinerlei Berührungsängste mit den Toten. Sie waren so friedlich und strahlten meist eine Würde aus, die den meisten Lebenden oft fehlte.

Marvin stürmte in die Wohnung.

„Kira, hast du es schon gehört? Die Polizei ist unten in der Höllgasse vorn bei Nummer 4. Vor dem Haus wird erzählt, sie suchen jemanden! Mehr habe ich nicht herausbekommen.“

Bevor Kira antworten konnte, rauschte es in der  Sprechanlage. Ein paar  abgehackten Silben und Wortfetzen waren zu hören, dann eine durchdringende Stimme, die in drängendem Ton zischte:

 „Brauchst du Nachschub?!“

Einige exotisch anmutende Wortfetzen schienen die Antwort zu sein, denn daraufhin hörte man die Stimme wieder:

„Du bekommst es so schnell wie möglich!“

„Waren das deine Hacklberger Freunde? Haben sie sich in der Wohnung getäuscht? Pass nur auf mit denen! Ich habe kein gutes Gefühl. Was ist nur mit dieser Sprechanlage los?  Schon vor ein paar Tagen hat sie öfter  geknackst. Ich fühle mich wie in der früheren DDR. Mutti hat ja immer erzählt, wie man dort über die Sprechanlage oder eingebaute Wanzen bespitzelt wurde.  Marvin, kannst du dich daran erinnern?“

Marvin schüttelte den Kopf, aber es war ihm anzusehen, dass ihm nicht sehr wohl in seiner Haut war.

 

 

 

 2Kapitel

 

„Mama, bist du da?  Ich hab‘ den Schlüssel vergessen“, rief Sandrine durch die Sprechanlage des Mietshauses in der Höllgasse 23 a. 

Es rauschte, die Verbindung wurde unterbrochen. Sandrine kam gerade von der Schule nach hause. Das schlanke Mädchen mit den dunklen gelockten Haaren und den blauen Augen stand kurz vor der Mittleren Reife in der Realschule.  Ihre Mutter, Claudia Bauer, war 19jährig mit ihr schwanger geworden, als sie sich unsterblich in einen französischen Austauschschüler verliebt hatte. 

Normalerweise kam Claudia Bauer freitags früher nach Hause. Das war der Deal mit ihrem Chef.  Eigentlich sollte sie als Assistentin des Marketingleiters rund um die Uhr für die Kunden verfügbar sein, aber am Freitagnachmittag schloss die Kinderkrippe, die ihre kleine Tochter Lena besuchte, bereits um 13 Uhr. 

„Sandrine, bist du‘s?“, meldete sich Herr Wimmer durch die Sprechanlage, „Deine Mama ist noch nicht da.  Sie wird noch beim Einkaufen sein.  Ich mach dir auf.“ 

Sogleich ertönte der Summer. Gustav Wimmer war ein schlanker, fast hagerer Mann, Anfang 50, mit grauen Fäden, die seine Haare an den Schläfen durchzogen. Er arbeitete als Dirigent im Passauer Stadttheater und verehrte Claudia heimlich. Die Frau, die ihre Haare meist zu einem Pferdeschwanz zusammenband, die in ihren hautengen Jeans eine gute Figur machte und ganz nebenbei Kinder und Beruf unter einen Hut brachte, beeindruckte ihn einfach.  Ihre Sommersprossen, die sich bis zu den Wangenknochen tummelten, gaben ihr ein jugendliches Aussehen und dabei vergaß man ganz, daß sie ein wenig hinkte.  Er wußte, daß dies von einer Verletzung zurückgeblieben war, als sie sich als Kind das rechte Bein gebrochen hatte. 

Sandrine und Herr Wimmer hatten sich gerade auf die Gartenstühle gesetzt, als Claudia mit Lena an der Hand durch die Toreinfahrt lief und außer Atem rief: 

„Sandrine, sorry, ich habe mich verspätet. Danke, Herr Wimmer, daß Sie sich um Sandrine gekümmert haben.“ 

Sie schaute Herrn Wimmer an und dachte sich im Stillen, was für ein interessanter Mann er doch war.  Sein Gesicht mit der etwas zu großen Nase und den grauen Augen, die sie freundlich ansahen, wirkte mit den Stoppeln eines 3-Tage-Bartes markant und ließ wahrscheinlich manches Frauenherz höher schlagen. 

Als Claudia mit ihren beiden Kindern die Treppe zum Hinterhaus hinaufstieg, schaute Frau Kammerbauer aus ihrer Haustür.  Sie hatte die Wohnung direkt neben Claudia und wußte über alle Geschehnisse im Haus Bescheid. Alle Mitbewohner bezeichneten sie hinter vorgehaltener Hand als Aufpasserin.  Frau Kammerbauer entging nichts.  Sie kannte alle Hausbewohner und konnte über das Kommen und Gehen eines jeden Einzelnen berichten, zumindest wer ihre Geschichten hören wollte.

Ihr Küchenfenster ging zum Hof und war der ideale Platz um Gespräche zu belauschen, die der Wind zu ihr nach oben wehte. 

Claudia vermutete hinter der geschwätzigen Fassade eine weichherzige und hilfsbereite Frau, denn ab und zu steckte sie Lena einen Schokoriegel zu, wenn sie sich auf der Treppe trafen. 

„Frau Kamerbauer, wissen Sie schon, dass morgen eine Mieterversammlung stattfindet? Wir treffen uns morgen Abend im „Grünen Baum“.“ 

„Mama, ich muss mal“, rief Lena und zerrte an Claudias Hand.  

Bevor Frau Kammerbauer ihre Neuigkeiten loswerden konnte, verschwand Claudia mit Lena und Sandrine hinter der eigenen Haustür. 

Claudia atmete tief durch, gab Lena einen Schubs Richtung Badezimmer und trug ihre Einkaufstasche in die Küche, die sie auf dem Tisch ablegte.  Der runde Holztisch mit seinen Kratzern und Schrammen war der Familientreffpunkt in der Wohnung.  Hier spielte sich das tägliche Leben ab.  Hier erfuhr Claudia auch, daß sich Sandrine den Rücken tätowieren lassen wollte.  Das ergab vor ein paar Tagen einen richtigen Wortkampf, der Claudia entgegen ihrer ruhigen Art in Rage versetzte.  Lautstark hatten sich Mutter und Tochter angeschrien und bestimmt hatte Frau Kammerbauer mit dem Ohr an der Haustür jedes Wort mitgehört.  Wer weiß, ob die afghanische Familie im 1. Stock über diesen Streit nicht auch schon längst informiert war.  

Claudia begann langsam die Tasche auszupacken und setzte Kaffee auf.  Sie brauchte dringend einen Koffeinschub.  Plötzlich hörte sie Stimmen aus der Sprechanlage: 

„Brauchst du Nachschub“?

War das die Stimme von Navid, dem ältesten Sohn der afghanischen Familie Nazemi, die schräg unter ihr wohnten? War das arabisch, diese unverständliche Antwort, die durch den Lautsprecher flüsterte?  Komisch, was war da eigentlich los? 

„Du bekommst es so schnell wie möglich“, hörte sie Navid antworten.

 

 

3. Kapitel

Lukas stand vor dem Briefkasten, nervös kramte er nach dem kleinen Schlüssel. Hoffentlich war endlich der Brief da – diese paar Zeilen, auf die er schon seit Wochen wartete: „…teilen  wir ihnen mit, dass wir sie für das Ausgrabungsteam in Göbekli Tepe /Türkei ausgewählt haben…“ Lukas stellte den Rucksack auf den Boden,  kniff die Augen zusammen und öffnete das schäbige Blechtürchen. Seine Hand tastete hinein – nichts!

„Hier bin ich“, gellte es in diesem Augenblick ohrenbetäubend durch das Treppenhaus. Lukas zuckte zusammen und konnte sich mit einem schnellen Schritt in Sicherheit bringen, während der Bengel aus dem Hinterhaus mit Karacho das Treppengeländer hinunter gesaust kam, sich schwungvoll abstieß und mit einem Sprung keinen halben Meter entfernt vor ihm landete.

„Kannst Du nicht aufpassen“, fuhr Lukas den Zwölfjährigen wütend an. Der grinste frech:

„Kein Stress, Mann!“. Dabei wischte er sich über das schmutzige Gesicht und zog die Nase hoch.

Lukas knallte das Türchen des Briefkastens zu, nahm seinen Rucksack auf und drehte sich gerade um, als die Haustüre aufflog und Batwoman hereinschwebte. So nannte er insgeheim die Gothiclady aus dem zweiten Stock, die ihn normalerweise keines Blickes würdigte. Doch jedes Mal, wenn er sie sah, staunte er über ihre Erscheinung. Diesmal fegte sie mit ihrem langen schwarzen Lackledermantel fast den Boden auf, obwohl draußen jetzt, am frühen Abend die Luft noch samtig warm war. Wie ein schwarzer Schleier fiel ihr schwarzes langes Haar über ihr weiß geschminktes Gesicht, aus dem blutrote Lippen wie eine Ampel leuchteten.

„Salve“, sagte Lukas. Doch auch diesmal ging sie grußlos an ihm vorbei die Treppe hoch und verschwand.

„Ost-Tussi!“, sagte grinsend der Bengel, der Lukas Blicke gesehen hatte und jetzt mit zwei ausgestreckten Fingern, die er vor seinem Gesicht wedeln ließ, Stielaugen nachahmte. Lukas schubste ihn weg, drehte sich um und ging zur Wohnungstür. Er hoffte inständig, dass Alex nicht da sein würde, doch kaum hatte er den Flur betrete, wusste er auch schon, was los war. Er hatte einfach kein Glück heute! Schon als er die ersten harten Beats hörte, mit denen ihn sein neuer Wohnungsgenosse seit Wochen nervte, merkte er, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Mann, warum hatte er zugelassen, dass dieser Jura-Schönling hier einzog. Seufzend ging er in die Küche, schloss hart die Türe hinter sich und schaltetet die Kaffeemaschine ein.

Auf dieses Geräusch hatte Lotta wohl nur gewartet, denn augenblicklich hörte er ihre Türe quietschen. Mit schnellen Schritten betrat sie die Küche.

„Hi, Lukas, machst Du mir auch einen Kaffee?“. Mit einer schnellen Bewegung warf sie ihre blonden Haare nach hinten und lächelte ihn an. Er grinste schief zurück.

„Ist dir was über die Leber gelaufen?“

Lukas seufzte und schaufelte Pulver in den Filter:

„Alles Scheiße. Noch keine Nachricht, ob ich zu der Ausgrabung zugelassen werde. Das Hauptseminar über die römischen Mithras-Tempel ist schon belegt. Und Alex nervt mich schon, wenn  ich seine Musik nur höre. Warum haben wir den eigentlich in unsere Wohngemeinschaft aufgenommen? Ich hab’s leider schon wieder vergessen!“

Lotta lachte:

„Weil nur er als Zwischenmieter für vier Monate bereit war einzuziehen. Aber bald kommt Manuel ja wieder aus  seinem Auslandssemester zurück.“

Lukas nickte stumm und beobachtete, wie das Wasser langsam durch den Filter tropfte. Dann lauschte er:

„Ich höre die  Sprechanlage. Mach doch mal die Türe auf.“

Lotta stieß die Küchentüre auf, und dann hörte auch sie es. Aus dem kleinen Lautsprecher  im Flur war ein Knacken zu vernehmen, dann war eine metallisch verzerrte Stimme zu vernehmen:

„Brauchst Du Nachschub?“ Es rauschte, dann hörte man ein paar undeutlich verzerrte Laute. Pause. Neuerlich ertöne die Stimme: „Du kriegst es so schnell wie möglich.“ Stille.

Lotta starrte Lukas an, dann kicherte sie:

„Wird hier ein Krimi gedreht? Was war das denn? Ist die Sprechanlage schon wieder kaputt? Und was waren das für seltsame Worte? Hat sich irgendwie ausländisch angehört.“

„Hm, könnte eine arabische Sprache gewesen sein. Vielleicht Farsi?“, überlegte Lukas. Dann fügte er hinzu:

„Nachschub? Was für ein Nachschub? Komische Sache.“

„Vielleicht Waffen? Kalaschnikoffs?“ Lotta gluckste laut.

„Die afghanische Familie im Hinterhaus, vielleicht hat da grad jemand geredet. Bei denen wimmelt es ja nur so Menschen.“

„Dass die da alle Platz haben, das wundert mich jedes Mal. Könnten bequem die Wohnung im Erdgeschoss noch dazu nehmen. Die steht ja immer noch leer.“

„Wirklich? Neulich habe ich gedacht, da drin ist jemand“, sagte Lukas.

Lotta schüttelte den Kopf:

„Nee, Du täuschst dich.“

Lukas gab dem Stuhl neben sich einen kleinen Tritt. Dann stand er auf, schenkte sich Kaffee ein und schlenderte zum offenen Fenster. Draußen zwitscherten ein paar Vögel im kühler werdenden Abendhimmel. Unter der Kastanie hüpften die zwei kleinen Mädchen der afghanischen Großfamilie über Kästchen, die sie sich in den sandigen Boden gezeichnet hatte. Ihre dunklen Gesichter mit den tiefschwarzen Augen sahen so ernsthaft drein, als ob sie eine wichtige Arbeit zu verrichten hätten. Ganz vertieft waren sie in ihr Spiel und bemerkten die Freundin des Hausmeisters erst, als sie neben ihnen stehen blieb und etwas zu ihnen sagte, das Lukas nicht verstehen konnte. Die Mädchen verstanden Svetlana offensichtlich auch nicht und schauten sie nur stumm an. So viel Verschlossenheit lag in ihren Blicken, so viel Unbehaustheit umgab sie, dass Lukas eine Gänsehaut verspürte. Die blonde, kräftig gebaute Russin und die beiden zierlichen Kinder aus Afghanistan waren sich so fremd wie zwei Sterne, die im All nebeneinander drifteten.  Jede war für sich alleine eine kleine Insel, kein Boot konnte zu ihnen vordringen. Und warum, dachte Lukas mutlos, soll es ihnen auch besser gehen wie mir? Er wusste ja nicht mal mehr, ob er wirklich noch weiter Archäologie studieren wollte, oder nicht doch lieber dem liebevollen Drängen des Vaters nachgeben sollte und „etwas Vernünftiges“ mit seinem Leben anfangen. War es das, worauf alles hinauslief – etwas Vernünftiges? Und was war vernünftig? Geld verdienen und sich in seinem Haus begraben? Wunschlos leben?

„He Lukas, alter Träumer, wo bist Du denn schon wieder?“

Lottas energische Stimme riss ihn aus seinem Grübeln. Er drehte sich um, fasste sie am Arm  und sagte:

„Komm, wir gehen was trinken, dann geht’s mir wieder gut.“

 

 

 4. Kapitel 

Hannes Koller betrat die kleine Wohnung im 1.Stock, schloss die Türe und lehnte sich erschöpft dagegen. Wieder hatte er den Mann vom Hinterhaus an den Briefkästen getroffen. Sein prüfender Blick! Hatte er ihn erkannt? Er machte sich nur selbst verrückt. Er sah in den Spiegel im Flur und war jedes Mal verwundert über die Person, die er dort sah. Konnte er sich jemals an diesen Anblick gewöhnen? Sein Gesicht war halb hinter einem wildgewachsenen Vollbart verschwunden.  Er nahm die braune Hornbrille ab und legte sie erleichtert auf den Garderobenschrank. Wollte sich instinktiv die Haare raufen und zuckte zurück. Haargel, die langen dunklen Haare, einst lockig und widerspenstig, gebändigt und im Nacken zu einem langen Zopf zusammengefasst. Graue Fäden zogen sich hindurch, unerbittlich und ohne Fremdeinwirkung.

 Er ging gebeugt, wie von einer unsichtbaren Last niedergedrückt, in die Küche zur Kaffeemaschine. Den gestern gekauften Kräutertee schob er achtlos zur Seite.  Die Müdigkeit musste bekämpft werden. Kaffee hatte immer geholfen. Er rieb sich die brennenden, fast schwarzen Augen. Einst war sein Blick das markanteste an ihm gewesen, immer etwas abwesend, als weile er in einer ganz anderen Welt. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und waren trüb. Dunkle Schatten lagen darunter und zeugten von seiner Schlaflosigkeit und Unruhe.

Kaffee! Die Magenschmerzen nahm er in Kauf.

Wann hatte er das letzte Mal etwas gegessen. Er vergaß es einfach, war mager geworden, fast schon dürr und das bei seiner stattlichen Größe. Ob das alles noch einen Sinn hatte? Als er sein Wohnzimmer betrat und sich ans Klavier setzte, verschwanden die mutlosen Gedanken. Das war seine Welt, die Musik. Nicht die gelangweilten Kinder in der Musikschule, die ohne Begeisterung, nur aus Pflicht den Eltern gegenüber, zu ihm kamen. Doch er durfte nicht undankbar sein, diese Kinder sorgten für seinen Lebensunterhalt. 

Er blickte sich um. Wie lange wohnte er jetzt schon hier? Fast ein Vierteljahr. Der Neubeginn in einer anderen Stadt. Vorher hatte er sich mehrere Monate auf einer Alm verkrochen, bis ihm sein Freund Stefan Talwieser diese Wohnung und den Job besorgte. Ohne ihn wäre das nicht möglich gewesen. Ohne Papiere!

Seinen Freund Stefan hatte er beim Studium kennengelernt. Ihre gemeinsame Liebe gehörte der Musik.  Stefan war Lehrer - und er selbst? Wenn er jetzt an das zurückdachte, wo er vor einem Jahr gestanden hatte und was alles passiert war. Stefan half ihm in der Zeit der Ausweglosigkeit und Verzweiflung, um wieder ins Leben zurückzufinden. Doch was war das für ein Leben? Und war all dies nun wieder in Gefahr, verlor er seinen Rückzugsort?

Er horchte, vom Flur her drang ein Knarzen an seine Ohren. Was war nun schon wieder mit dieser Sprechanlage los? Ständig gab sie Geräusche von sich.  Er ging nach draußen um dies zu überprüfen. Da hörte er Stimmen aus dem kleinen Gerät:

„Brauchst du Nachschub?“ Es folgten ein paar unverständliche Wortfetzen. Dann: „Du bekommst es so schnell wie möglich!“ Danach Schweigen.

Sprachlos stand er im Flur. Was sollte das? Konnte er die Stimmen zuordnen? Nein, dazu kannte er die anderen Mitbewohner zu wenig. Er wollte auch gar keinen Kontakt. Für sich bleiben, das war besser, sicherer. Was würde passieren, wenn ihn einer erkennen würde? Ihm kam wieder der Mann aus dem Hinterhaus in den Sinn. Diese Blicke!

Spontan griff er zum Telefonhörer und rief Stefan an.

„Hallo Stefan, hast du schon gehört, dass hier morgen eine Mieterversammlung stattfinden soll? Weißt du, um was es da geht?¨

„Nein, ich hatte in der letzten  Zeit keinen Kontakt mit Ludwig von der Hausverwaltung. Jetzt verfalle nicht gleich wieder in Panik. Ich höre mich mal um. Wie geht es dir überhaupt? In der Schule haben wir uns in den letzten Tagen ja kaum gesehen.“

"Wie es mir geht, fragst du? Ich lebe von Tag zu Tag und versuche nicht nachzudenken. Dann ist es erträglich."

„Willst du reden, wollen wir uns treffen?“

„Ich weiß nicht, habe im Moment den Kopf so voll. Aber eines fällt mir ein. Hier begegne ich immer wieder einem Mann, er wohnt im Hinterhaus, ist ungefähr im gleichen Alter wie wir. Kannst du klären, wer das ist? Er sieht mich immer so fragend an...."

„Du und dein Verfolgungswahn, vielleicht solltest du doch einmal über meinen Rat nachdenken und die Geschichte aufarbeiten? Ich habe dir kürzlich von dem  Psychologen erzählt. Diese Chance solltest du wirklich nutzen."

„Ach, lass mich bloß mit dem Thema in Ruhe. Ich will einfach nicht darüber reden."

Hannes konnte sich nicht mehr auf seine Arbeit am Klavier konzentrieren. Stefan hatte ihn wieder einmal durcheinander gebracht, mit seinem Drang zum Aufarbeiten. Er musste raus, laufen und den Kopf wieder freibekommen. Er verließ die Wohnung und warf der Sprechanlage noch einen nachdenklichen Blick zu. Vielleicht konnte er unten im Hauseingang etwas entdecken.

 

 

5. Kapitel

Edwina stellte ihren Wochenendeinkauf vor der Haustüre ab und fingerte ihren Schlüssel aus der Handtasche. Natürlich lag er zuunterst. Edwina schob Zigarettenschachtel und Feuerzeug zur Seite, nein, er musste auf der anderen Seite liegen, und Edwina schwor sich, diese Handtasche das letzte Mal benutzt zu haben.

Endlich hatte sie den Schlüssel zur Hand, sperrte die Türe zum Hinterhaus in der Höllgasse 23 auf und schnupperte  sofort einen unangenehmen Geruch. Fisch? Oder schon wieder dieser ewige Eintopf! Sie konnte nur den Kopf schütteln über diese Taktlosigkeit. Jeden Tag das gleiche, diese afghanische Familie aus dem ersten Stock ließ das ganze Haus wissen, was es bei ihnen zu essen  gab. Edwina stieg die Treppen hinauf und fiel fast über die aufgereihten Schuhe besagter Familie, was sie als nächste Ungehörigkeit bemerkte, und sie nahm sich vor, das bei nächster Gelegenheit zur Sprache zu bringen. Schließlich lebte man in Deutschland -wenn das jeder hier täte! Noch während sie ihre Wohnungstür öffnete, fiel ihr ein, dass die auf Morgen anberaumte Mieterversammlung eine gute  Gelegenheit dazu bieten würde.

Sie zog die Schuhe aus , betrat ihre kleine Küche, räumte die eingekaufte Milch, Butter und eine abgepackte Leberwurst in den Kühlschrank, sortierte zwei Tomaten und  zwei Äpfel in die Gemüseschale und stellte zwei Flaschen Wasser  in die Kühlschranktür.

Sie zog eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an, während sie das Fenster öffnete und sich auf das Fensterbrett stützte. Ihr Blick glitt über die Fenster der verschiedenen Wohnungen, die meisten waren noch geschlossen, Scheibengardinen verwehrten einen Blick hinein, und da es noch taghell war, lagen die Zimmer dahinter noch nicht im Schein der Lampen.

Sie drückte ihre Zigarette in einem Topfuntersetzer aus, schnippte sich einige Aschenteilchen vom Pullover und schloss ihr Fenster. Es würde ein Wochenende wie jedes andere werden.

Das Ticken der Küchenuhr  war der einzige Laut im Raum , umso mehr fuhr sie zusammen, als im Flur plötzlich die Sprechanlage  knisterte und eine ihr fremd erscheinende Stimme aufgeregt hinein sprach:

„Brauchst du Nachschub?“

Edwina hielt förmlich die Luft an, als hätte man sie auf irgendeiner frischen Tat ertappt. Sie starrte auf den Lautsprecher neben der Haustüre und wartete ab.

Und tatsächlich, eine ebenso fremde Stimme sagte etwas in einer ausländisch klingenden Sprache. Sie verstand kein Wort,  aber die Antwort darauf umso besser:

„Du bekommst es so schnell wie möglich.“

Edwina drückte auf den Knopf, mehrmals, sprach hinein, lauschte, aber es war Funkstille. Nichts mehr zu hören. Was ging hier vor? Edwina ging gedankenvoll in ihr Schlafzimmer, zog  die Vorhänge vor das gekippte Fenster, schlug die Bettdecke zurück und legte sich für die Nacht ihren Schlafanzug zurecht.

Langsam und sorgfältig zog sie sich um, hängte ihre Bürokleidung auf die entsprechenden Bügel und streifte sich einen grauen Jogginganzug über. Sie setzte sich an ihren kleinen Küchentisch und überlegte kurz, wann sie denn das Abendbrot essen würde. Wie immer, dachte sie, nicht später als 19 Uhr und nur eine Kleinigkeit.

Sie würde sich genügend Zeit nehmen zu beobachten, wie die Lichter in den Wohnungen aufleuchteten,  würde zusehen , wie sich die Familien  in den Zimmern verteilten, wieder zusammenkamen, sich um den Tisch setzten und das Abendbrot aßen. Sie stellte sich vor, wie sie über den Tag und seine Ereignisse sprechen würden, über die Noten der Kinder, den Einkauf der Frau, den Ärger des Mannes im Büro. Sie machte sich einen Spaß daraus, so zu tun, als würde sie an dem einen Tag bei der Familie gegenüber dabeisitzen und sich den Platz mit den sieben Kindern teilen, am nächsten Tag bei der seltsamen Dame, im 2.Stock des  Vorderhauses . Dann schrak sie auf, die afghanische Familie unter ihr trampelte, als würde eine Herde Elefanten durchziehen.. Sie hörte die Kinder schreien und lachen, minutenlang ging das so. Jäh durchzuckte sie die Wut, heftig stampfte sie mehrmals mit dem Fuß auf.  Es wirkte, stellte sie befriedigt fest.

Aufs Neue öffnete sie das Küchenfenster, das ihr den Blick auf den Hinterhof, seine Aschentonnen und die kleine Sitzgruppe freigab und entzündete eine weitere Zigarette. Sie genoss einen tiefen Lungenzug, blies kleine Rauchringe in die Abendluft und hatte Zeit, sich noch einmal das merkwürdige Gespräch der defekten Gegensprechanlage durch den Kopf gehen zu lassen. Wer war das, aus welcher Wohnung wurde gesprochen? Und sofort kam ihr die leer stehende Wohnung in den Kopf. Sollte sich dort jemand aufhalten, ohne dass die Mieter es wussten? Edwina schnippte an ihrer Zigarette, die Asche flog langsam in den Hof hinunter. Hätte sie mehr Mut, würde sie einfach an dieser Tür einmal läuten und um eine Kleinigkeit bitten, zum Beispiel um eine Tüte Milch oder etwas Mehl. Wäre es ein Mann, bäte sie um Streichhölzer.

Edwina schüttelte über sich selber den Kopf, stiebte ein Aschenteilchen von ihrer Joggingjacke und schloss das Fenster. Es war sieben Uhr. Jetzt  konnte sie sich ihr Abendbrot zubereiten.

Sie aß ein Tomatenbrot, wusch den einzelnen Teller in der Spüle und setzte sich an ihren Schreibtisch im Wohnzimmer. Sie tat das, was sie an jedem Abend tat, sie öffnete ihren PC und begann zu schreiben. Und heute hatte sie einen durchaus neuen und ergiebigen Stoff.

 

 6. Kapitel

 

Gerade hatten die Mädchen noch fröhlich Fangen gespielt, polternd war dabei der Stuhl umgefallen. Jetzt lauschten sie erschrocken dem „Bum, Bum“, das von der Zimmerdecke aus der über ihnen liegenden Wohnung kam. 

 „Psst, seid still!“, sagte die Mutter und legte den Finger an ihre  Lippen. Sie hatte Respekt vor der strengen Edwina Kammerbauer, die über ihnen wohnte und die für das ausgelassene Spiel der beiden kein Verständnis aufbringen konnte. Dabei hatten sie doch so wenig zu lachen und kaum Platz zum Toben. Liebevoll strich Fathma über Rehanas langes, glänzendes Haar. 

„Warum ist die Frau oben böse?“,  fragte Aisha und hüpfte dabei von einem Bein auf das andere, breitet dann ihre Arme aus und umarmte ihre Mutter: 

„Ich bringe Blumen zu der  Frau, dann muss sie riechen und kann nicht mehr schimpfen.“

Aisha  nahm ihre jüngere Schwester an der Hand: 

„Komm gehen wir Blumen suchen!“  

„ Bleibt aber im Hof, ich sehe euch vom Fenster aus zu“ , rief Fathma hinterher. 

Dann fiel die Türe mit lautem Knall ins Schloss, unmittelbar darauf war das Treppengepolter der beiden Mädchen durch das ganze Haus zu hören. 

Fathma öffnete das Fenster, von dem aus sie den Innenhof überschauen konnte. Kurz darauf tauchten Aisha und Rehana auf, sie spielten zwischen den Mülltonnen Verstecken. Ihren Plan Blumen zu suchen hatten sie längst vergessen. Auf den Sitzbänken unter dem großen Kastanienbaum saß ein älteres Paar in angeregter Unterhaltung. Wie gerne hätte Fathma sich zu ihnen gesetzt. Einfach nur um unter Menschen zu sein. Sprechen würde sie zwar nicht mit ihnen, sie konnte ohnehin kein Deutsch. Ihr Mann Acic hatte ihr verboten, an einem Deutschkurs teilzunehmen, ebenso wie er ihr verboten hatte, alleine hinunter in den Innenhof zu gehen. Aber was hätte sie mit den Deutschen auch schon reden sollen. 

Sie dachte an die Zeit zurück,  als sie noch im Asylbewerberheim gewohnt hatten. Manchmal sehnte sie sich nach der Enge des Heims, nach den Freundinnen, die sie in den Arm nahmen, die mit ihr lachten und plauderten. Die ihre Kinder umarmten und herzten. Wie hatte sie sich gefreut, als sie als Asylbewerber anerkannt worden waren  und schließlich in diese Wohnung hatten umziehen dürfen.  Sie verstand nicht, warum sie die Menschen hier nicht wollten. Lag es an Acic, ihrem Mann? Er hatte sich auf der Flucht verändert. Er war früher ein guter Mann gewesen. 

Das melodische Signal des Handys riss Fathma aus ihren Gedanken. 

„Allo?“ 

„Drück auf den Öffner und mach gefälligst die Haustüre auf“, sagte Acic am anderen Ende, „hast Du das Läuten nicht gehört?“ 

 „ Nein, Acic“, stammelte Fathma, doch da hatte Acic bereits aufgelegt. 

„ Aisha, Rehana“, rief Fathma in den Hof „kommt sofort hoch. Euer Vater wird gleich hier sein!“ 

Die Mädchen waren nicht mehr zu sehen. Da hörte Fathma auch schon das Geräusch des sich drehenden Schlüssels an der Wohnungstür. Mit drohendem Blick schob der große, schwarzhaarige Acic  die beiden Mädchen vor sich her und baute sich vor Fathma auf.  

„ Wie oft hab ich Dir schon gesagt, dass die beiden im Hof nichts zu suchen haben. Und Du? Ich habe Dich beobachtet. Du starrst aus dem Fenster. Du versuchst die Männer auf dich aufmerksam zu machen.“ 

Verängstigt drückten sich die beiden Mädchen in die Ecke des Flurs. Acic packte Fathma bei den langen schwarzen Haaren. Er hob seine Hand und holte aus, um ihr ins Gesicht zu schlagen. Da brummte  es plötzlich laut und anhaltend in der Sprechanlage neben der Eingangstür. Acic hielt inne. 

 „ Was ist das !“ 

„ Acic,ich weiß es nicht.! Bitte beruhige dich. Ich habe auf die Mädchen aufgepasst, darum habe ich aus dem Fenster gesehen. Sie brauchen Blumen für den Kindergarten, darum waren sie im Hof.“ 

Nach einem erneuten Knistern in der Sprechanlage  ließ Acic Fathma los. Er erstarrte, als er die Stimme seines ältesten Sohnes Navid vernahm: 

 „ Brauchst du Nachschub?“ 

„ Ja dringend!“, antwortete eine Stimme auf Farsi. Acic Gesicht verfinsterte sich, er stieß hervor: 

 „ Idioten, was soll das!“ 

Dann wandte er sich um, öffnete die Tür und verschwand mit eiligen Schritten im Treppenhaus.

 

 

7. Kapitel

Was ging vor in diesem Haus, was sollten diese Stimmen in der Gegensprechanlage, noch dazu in fremdklingender Sprache? Sie zündete sich eine Zigarette an und starrte auf den leeren Bildschirm. Noch während sie einen tiefen Lungenzug nahm, öffnete sie das Wohnzimmerfenster, lehnte sich hinaus und war augenblicklich in angespannter Haltung. Geschrei und laute Stimmen drangen aus dem Fenster unter ihr an ihre Ohren. Sie wusste, dass die Afghanen sich auf Farsi unterhielten und es schien ihr, als sei dies dieselbe Sprache, die heute aus der Gegensprechanlage getönt hatte.

Edwinas Mund wurde ein schmaler Strich, sie drückte ihre Zigarette aus und schlich sich hinaus aus ihrer Wohnung auf dem Hausflur. Vergessen war ihr tägliches Tagebuchschreiben in ihren PC, ihr minutiöses Auflisten aller Geschehnisse an ihrer Arbeitsstelle. Sie war nicht mehr die Frau an der Rezeption im Passauer Sozialamt, und sie war nicht die Hagere, die jede Nacht alleine in ihr Bett stieg, mit verbotenen Wünschen und Träumen.

Nein, sie war Edwina Kammerbauer, 51 Jahre alt und sie wachte über „ihr“ Haus, in dem sie lebte. Sie fühlte sich als der gute Geist des Hauses, ganz im Gegensatz  zu ihren Mitbewohnern, die sie hinter ihrem Rücken als klatschliebende Aufpasserin und  kontrollsüchtige „ Sitzengebliebene „ bezeichneten.

Edwina war ganz in ihrem Element, als sie die Treppenstufen auf Strumpfsocken hinuntertappte. Als sie fast auf Höhe der Wohnungstür der Familie Nazemi war, öffnete sich diese und Acic Nazemi trat heraus. Edwina hielt den Atem an, noch hatte er sie nicht  entdeckt. Gott sei Dank, was hätte er von ihr gedacht, in Strumpfsocken, vor seiner Haustüre?

Ihr Herz klopfte, was tat der Mann hier? Er machte kein Licht im Treppenhaus und, sie war ganz sicher, auch er schlich die Treppen hinunter, ins Erdgeschoss und klopfte an der Haustüre der  angeblich leerstehenden Wohnung. Edwina beugte sich vor und versuchte, im Dunklen zu erkennen, was dort vor sich ging. Fassungslos sah sie zu, wie sich die Türe öffnete, Stimmengewirr, und Acic dahinter verschwand.

 Edwina kehrte in ihre Wohnung zurück, schloss die Türe und lehnte sich gegen die selbe. Es hatte ihr die Sprache verschlagen. Sorgfältig drehte sie den Schlüssel zweimal um im Schloss, legte die Kette vor und setzte sich an ihren Tisch. Ihre Finger flogen über die Tastatur ihres PC, jedes Wort eine empörte Anklage gegen das Treiben in ihrem Haus. Morgen würde sie dem Ersten, den sie traf, von ihrem Verdacht erzählen. Im Erdgeschoss musste sich ein illegaler Verwandter der Familie Nazemi in der angeblich leeren Wohnung befinden.

Ihre Gedanken rasten. Wenn das so war, wer wusste noch davon? War das womöglich der Grund für die überraschend angesetzte Mieterversammlung? Edwinas Eintrag in ihren PC endete mit einem Fragezeichen, bevor sie ihn schloss. Eine letzte Zigarette vor dem Zubettgehen am offenen Fenster. Ihre Augen huschten von Fenster zu Fenster, nichts Außergewöhnliches war zu sehen oder zu hören. Verächtlich löschte sie den Zigarettenstummel.

„Alles Lügner und Kriminelle!“,  ging es  ihr durch den Sinn.

 Und dabei dachte sie auch an den merkwürdigen Musiklehrer im ersten Stock des Vorderhauses. Wie ein verängstigter Vogel floh er durch das Treppenhaus, wenn er  irgend jemandem  begegnete. Jeden Morgen traf sie ihn  am Briefkasten, wenn sie ihre Zeitung holte. Ein leises „ Guten Morgen“ mit abgewandtem Gesicht, und schon war er wieder in seiner  Wohnung verschwunden.

Sie legte ihren Jogginganzug säuberlich zusammen, ging ins Bad und putzte ihre Zähne. Aus dem Spiegel sah ihr ein blasses, übernächtigtes Gesicht entgegen. Ihr grauer Haaransatz war schon wieder deutlich zu sehen und missgelaunt nahm sie einen aufkeimenden Pickel an ihrem Kinn wahr. Aber er drang nicht wirklich in ihr Bewusstsein. Nein, sie überlegte gerade, wie sie dem Herrn Musiklehrer morgen eine ganz unverfängliche  Frage stellen würde: Haben Sie schon  mal Licht in dieser Wohnung gesehen, Sie haben doch einen guten Einblick? Oder, vielleicht besser: Was glauben Sie denn, was Thema der Mieterversammlung sein wird?. Wir werden doch nicht  unangenehme Neuigkeiten zu hören bekommen? Ja, das war der richtige Einstieg, er würde ihr antworten müssen. Und dabei würde er sich vielleicht verplappern, irgendetwas über sich selbst verraten. Warum nur sah er immer so aus, als ob er auf der Flucht sei?

Edwina fühlte sich auf der richtigen Fährte. Dieser Herr Koller würde vor ihrer Autorität klein beigeben. Zufrieden löschte sie das Licht, stieg in ihr Bett und  sah dem morgigen Tag mit Genugtuung entgegen.

Auch der Musiklehrer löschte gerade das Licht, legte sich auf seine linke Einschlafseite und verschwendete keinen Gedanken an den nächsten Tag. Er war froh, den heutigen überstanden zu haben. Und diese Mieterversammlung, er würde hingehen, um nicht aufzufallen, aber er würde sich im Hintergrund halten. Unsichtbar sein, das hatte er inzwischen gelernt. Nur die Frau aus dem Hinterhaus, dieser Frau Kammerbauer –es gelang ihm nicht, ihr aus dem Weg zu gehen. Immer wieder traf er auf sie, fühlte sich ihren durchdringenden Augen ausgeliefert, stammelte die nötigen Worte und war versucht, vor ihr zu fliehen.

Er setzte sich im Bett auf. Dieses merkwürdige Gespräch aus der Gegensprechanlage, versteckte sich hier jemand im Haus? Gab es noch jemanden, der nicht gesehen werden wollte?  Er stand auf, ging in die Küche und  schenkte sich ein Glas Milch ein. Nervös lief er zwischen Fenster und  Kühlschrank hin und her, ein Schatten, der sich schemenhaft abhob.

Er wusste nicht, dass er beobachtet wurde. Edwina Kammerbauer war aufgewacht. Sie registrierte jeden seiner Schritte, und ihre Augen glänzten im Licht der Hofbeleuchtung.

 

 

8. Kapitel

 

Am Samstagmorgen ging Hannes nach unten um seine Zeitung zu holen. Er steckte gerade den Schlüssel in den Briefkasten,  als er von hinten angesprochen wurde. 

„Guten Morgen!" 

 Erschrocken drehte er sich um und stand Edwina Kammerbauer gegenüber. Schon wieder jemand, der mich so eindringlich mustert, dachte er und antwortete mit einem distanzierten "Guten Morgen!" Doch sein Tonfall schien sie nicht zu beeindrucken. 

„Haben Sie gestern die eigenartige Durchsage in der Sprechanlage gehört?" Sie sah ihn mit strengem Blick an. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück, um Abstand zwischen sich und der Frau zu bringen. Sicherheit! 

„Ja, habe ich gehört!" 

Wie komme ich nur schnell wieder in meine Wohnung, fragte er sich. Er fühlte sich in Bedrängnis. Doch schon kam sie wieder näher, eine aufdringliche Person. 

„Ich beobachte Sie schon länger. War die Durchsage an Sie gerichtet? Wir wollen hier im Haus keine Schwierigkeiten, und Sie kommen mir doch sehr seltsam vor." 

Sie wartete auf eine Reaktion von ihm, doch er war zu verblüfft um überhaupt zu reagieren. Was bildete sich diese Person bloß ein? Ohne eine Antwort drehte er sich um und stürmte die Treppen nach oben. Seine Wohnungstüre flog krachend hinter ihm ins Schloss. Außer Atem lehnte er sich gegen die Wand. Das war ein Fehler gewesen! Warum war er ohne ein Wort davongelaufen? Jetzt war er erst recht in ihrem Visier! 

Er ging in die Küche und setzte sich an den Küchentisch. Die Zeitung blieb unbeachtet. Hier vor Ort schien etwas Spannenderes zu passieren. Er wurde verdächtigt, doch was geschah hier wirklich. Was bedeutete dieser Sprechanlagendialog? Die ausländischen Wortfetzen?

Unruhe kam auf in ihm. Er musste überlegen! Er fühlte, wie er aus seiner monatelangen Lethargie erwachte. Irgendwie war das doch eine aufregende Sache. 

Was hatte er in den letzten 3 Monaten beobachtet? Obwohl er sehr in sich gekehrt gewesen war, waren ihm doch einige Mitbewohner und Begebenheiten aufgefallen. Die ausländische Familie, die im Hinterhaus wohnte etwa. Unter ihnen stand eine Wohnung leer –oder doch nicht? Von seinem Küchenfenster aus hat er öfters abends einen schwachen Lichtschein gesehen. Eine kleine Taschenlampe? Die Rollos wurden jedenfalls nie bewegt. Auch der ausländische Mann mit den vielen Kindern war ihm aufgefallen. Neulich war er aus dem Hinterhaus gekommen, sein Blick hatte das Fenster im Erdgeschoss gestreift, dabei hatte er genickt und sah sich dann suchend um, so als ob er Angst hätte, beobachtet zu werden. Seltsam war das. 

Hannes wippte unruhig mit dem Fuß. Er konnte sich nicht länger verstecken, sonst wurde er mit etwas in Verbindung gebracht, das überhaupt nichts mit ihm und seiner Vergangenheit zu tun hatte. Doch wie sollte er vorgehen? Die leere Wohnung - er musste sich Gewissheit verschaffen. 

Er ging nach unten und überquerte den Innenhof, den Blick auf die dunklen Fenster im Erdgeschoss gerichtet. Hatte er einen Schatten gesehen? Schnell trat er an das Fenster, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte etwas zu erkennen. Er fühlte sich wieder zurückversetzt in seine Kindheit. Er war ein sehr lebhafter Junge gewesen, vor dem nichts und niemand sicher war – er war wissbegierig und offen für alles Neue. Er hatte sich nicht getäuscht, da war ein Schatten rechts neben dem Fenster. 

„Hallo Sie! Ich komme rein, machen Sie mir bitte auf, wir müssen kurz sprechen!" Er ging durch die Haustür und klopfte an die Wohnungstüre. Keine Reaktion. 

„Hallo, ich weiß, dass Sie da sind! Machen Sie bitte auf, ich will nur mit Ihnen sprechen. Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben!" 

Hannes dachte sich, vielleicht versteht er mich gar nicht, und versuchte es in Englisch: 

“Hallo, please open, let me in. I will help you. No danger!" Fast musste er über seine einfachen Worte lachen. Wie lange hatte er nicht mehr Englisch gesprochen, doch es ging noch.

Als wieder nichts geschah rief er in einem schärferen Ton: 

„Open or I go and get the police! Police!“ 

Das wirkte. Die Türe öffnete sich einen kleinen Spalt und ein dunkles Gesicht wurde sichtbar.

Sie wollen wissen, wie es weitergeht in den nächsten zehn Kapiteln? Gerne sende ich Ihnen den kompletten Gruppenroman per Mail zu!

Autorinnen: Christine Fischer, Hildegard Frank, Gesine Hirtler-Rieger, Doris Kronawitter, Dagmar Nahler, Ursula Ziemsen

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