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Die Suche nach dem verlorenen Drachen-Ei

Veröffentlicht am 23.05.2016

Die schwere Eingangstür der Europabücherei fiel mit einem satten „Plopp“ ins Schloss. Fridolins grasgrüne Ohrspitzen richteten sich auf. Aufmerksam lauschte er dem metallenen Geräusch des sich drehenden Schlüssels. Träge hob Fridolin zuerst das rechte Augenlid und blinzelte dann mit dem linken Auge zur Tür. Alle waren fort und endlich herrschte Ruhe in seiner Festung. Nur der Lärm der vielbefahrenen Straße war zu hören. Schwach drang das Licht der Außenbeleuchtung durch die Fenster. Der grünliche Schein der Notbeleuchtung versetzte den Raum in einen nächtlichen Dämmerzustand. In dieser geheimnisvollen Atmosphäre erwachte er zum Leben. Fridolins Stunde war gekommen.

„Uuah“, laut gähnend hob er seinen Oberkörper, wischte mit einem einzigen Schlag seines kräftigen Drachenschwanzes die rund um seinen Ruheplatz abgelegten bunten Prospekte, die vielen bedruckten Blätter und Papierstapel zu Boden.

Während er seine leuchtend grünen Flügel ausbreitete, gähnte Fridolin noch einmal lauter und herzhafter als zuvor. „Ups“, rülpste der Lesedrache erschrocken, als dabei unversehens eine rote Stichflamme aus seinem weit geöffnetem Maul schoss. Er konnte sie gerade noch hinunter würgen, indem er sich japsend hinterher hechtete und sie mit seiner feuerroten, langen Zunge einfing.

„Das ist ja gerade noch mal gut gegangen!“ Es roch leicht nach verbranntem Plastik.

„Spinnst du?“, klapperte es aus der CD-Abteilung und auch die DVD-Hüllen begannen sich aufgeregt zu öffnen und zu schließen: „Willst du uns versengen? Verschwinde!“ Auch die PC-Spiele empörten sich: „ Du stinkst!“

 Aus der benachbarten Kinderbuchabteilung war weinerliches Klagen zu hören: „ Wir haben Angst!“ Die erfahrenen Eltern-Kind-Ratgeber versuchten mit sanftem Knistern auf die jammernden Kinderbücher einzuwirken: „Pscht, Fridolin tut nix. Er meint es nicht so. er will ja nur spielen.“

Aber besonders die kleinen Pixibücher konnten sich gar nicht mehr beruhigen. Sie weinten unaufhörlich, so dass ihre Tränen ihre Umschlagseiten wellten.

Fridolin schämte sich ein bisschen, beschloss aber dann, nichts gehört zu haben und schwang sich mit einem eleganten Flügelschlag hinauf in das erste Obergeschoss.

Als der grasgrüne Missetäter zur Landung ansetzte, erwartete ihn bereits Sherlock Holmes, der ihn durch eine große Lupe anstarrte und ausrief: „Ha, ich werde dem Verbrechen zuvorkommen! Watson sichert die Spuren!“

Das anhaltende, jämmerliche Geheule der Erstlingsbücher war so laut, dass auch die Historischen Romane von diesem Lärm erwachten. Mit gezücktem Degen stürmten Robespierre und die drei Musketiere auf Fridolin zu: „Vive le Revolution!“ Fridolin stieß vor Schreck  kleine Schwefelwölkchen aus seinen  bebenden Nüstern und wollte fliehen.

Doch gerade als er sich umdrehte, verhedderte er sich in den Falten einer wehenden Toga. Der in weiße Stoffbahnen gehüllte Mann, rückte sich erzürnt seinen Lorbeerkranz zurecht , ergriff sodann seine Leier und begann verzückt zu singen: „Laudo Odorem, welch köstlicher Duft, Roma in flammis, oh brennendes Rom!“ Verwirrt watschelte Fridolin an den mit Büchern gefüllten Regalen vorbei. Gerade konnte er noch einer Schwertspitze ausweichen, die  plötzlich zwischen den Buchdeckeln herausragte. Sie gehörte zu Siegfried von Xanten, der mit einem markerschütterndem Schrei auf ihn zustürzte: „Balmung auf ihn, in seinem Blut will ich baden!“

 Entsetzt und so schnell ihn seine Drachenbeine trugen, verschwand Fridolin hinter den Bänden, auf denen Berge, Wiesen und Wälder zu sehen waren. Doch gerade als er es sich hier gemütlich machen wollte, sah er geradewegs in einen Gewehrlauf und zwischen dem Meineidbauern und dem Erben vom Björndal erblickte er das geschwärzte Gesicht eines Mannes: „He Loisl, verflixt nua moi, jetzt hetzt uns da Jagdaufseher an Drachen, weil uns seine Bluathund net erwischn. Oder is ebba gar sei verhexts Wei, des uns da auflauert. Kimm haun ma ab!“ Und genauso schnell wie die rußgeschwärzten Gesichter aufgetaucht waren, verschwanden sie auch wieder.

Seufzend patschte Fridolin weiter. Was hatte er da nur alles verschlafen: „Irgendetwas stimmt hier nicht mehr! Vielleicht sollte ich doch einmal beim Neuesten vom Tage vorbei schauen, um diesem Mysterium auf die Spur zu kommen.“

Fridolins heißer Atem hatte das Regal mit den exakt aneinandergereihten Tageszeitungen und Illustrierten noch nicht erreicht, da raschelte bereits die Süddeutsche mit sonorer Stimme: „Weg, weg, weg!“. Brigitte, Petra und Emma, Lisa, Belle und Laura kreischten gleichzeitig: „Halt bloß dein Maul!“ Ihre Titelseiten schienen jeglichen Glanz verloren zu haben, so sehr ängstigten sie sich um ihr elegantes Cover. „Wir sind viel zu jung, viel zu aktuell für dich!“

Betrübt wandte sich Fridolin der „ZEIT“ zu, die ihn mit der knisternden Weisheit des Alters befragte: „Du hast dich wohl verflogen oder hat man dich entführt?“

Da erzählte Fridolin wehmütig von den70-iger Jahren, als in seine Festung tagtäglich Frauen mit dicken Bäuchen hereinkamen und bleiche Männer sie begleiteten. Er berichtete von den schwarzgekleideten Frauen, die seltsame Namen, wie Sr. Ludovika trugen und den weiß gewandeten Männern, die mit gefährlich aussehenden, blitzenden Messern, langen Schläuchen und silbernen Zangen hantierten.

„Ich habe herausgefunden, dass die Schwarzen und die Weißen den dicken Frauen beim Schlüpfen ihrer Jungen halfen. Da beschloss ich hier zu bleiben. Seit wir Drachen vom Aussterben bedroht sind, haben auch wir Drachenmänner mit Hilfe mächtiger Zauberer gelernt Eier zu legen. Auch ich wollte hier einmal mein Ei ablegen. Doch vorher heizte ich den Klosterschwestern, so hießen die Schwarzen, noch ordentlich ein. War das eine Gaudi, wenn ich mich schlurfend über den Schwesternzimmern bewegte und sich die Ordensschwestern schwitzend in die Patientinnenzimmer flüchteten. Dann war der Weg frei für mich in die  Babyzimmer. Da schlummerten sie gleich viel wohliger, wenn ich sie mit meinem warmen Atem zärtlich streichelte. Und später, wenn die Nachtschwester eingeschlafen war, erhitzte ich mit einem einzigen heißem Schnauben die Gerätschaften im Behandlungszimmer, dass sie nur so glühten."

„Mhmm“, sinnierte die „ZEIT“ nachdenklich, „darum gab es damals auch noch keinen multiresistenten Keim. Das erklärt vieles!“

„Ja, und einmal war besonders viel los“, fuhr Fridolin fort.

„Es war eine Nacht, in der das Geplärre der Neugeborenen und das Gestöhne der Gebärenden kein Ende nehmen wollte. Die Hebammen hatten alle Hände voll zu tun, in den zwei Kreissälen wurde nach bester Drachenart gehechelt und gestöhnt, und aus den Bädern, in denen sich jammernde Frauen entspannen sollten, dampfte es wie einst in meiner alten Drachenhöhle. Die gefährlichen Gerätschaften blitzten und klirrten wie ein Sommergewitter. Alle schrien durcheinander und in diesem Höllenlärm fühlte ich, dass auch meine Stunde gekommen war.

Unbemerkt hatte ich mich zwischen die zwei Kästen, die  sie Ultraschallgerät und Wehenschreiber nannten, zurückgezogen und begann ebenfalls zu kreißen. Als mein Ei endlich da war, so rein, so weiß, so herrlich oval mit schwefelgelben Punkten, schoss mir vor Freude eine kleine Glücksfeuerfontaine aus dem Maul. Zum Glück befand ich mich in der Nähe der Wärmebettchen der Frühchenstation und somit war meine Energie nicht verschwendet. Doch war ich erschöpft von der schweren Geburt meines wunderbaren Eis. Bei der Suche nach einem drachenstarken Versteck, entdeckte ich im Wärmezimmer eine Mauernische mit dicken, warmen Heizungsrohren. Im Vertrauen darauf, dass sich die Ordensschwestern genauso liebevoll und resolut um meinen Nachwuchs kümmern würden, wie sie das bei den Menschenkindern taten, schob ich mein Ei mit letzter Kraft in diese Mauernische und dann versank ich in einen tiefen Schlaf.“

„Von dem du jetzt erst erwacht bist, fuhr die „ZEIT“ wissend fort, „und nun suchst du dein Ei!“

Fridolin weinte eine dicke Drachenträne, als er zustimmend nickte.

Hellsichtig hob die "ZEIT“ zu einer längeren Rede an:

 "Dein Ei verschwand 1991. So viele Ereignisse sah ich in diesem Jahr kommen und gehen. Unter  Bundeskanzler Helmut Kohl und Präsident Richard Weizäcker wurde Berlin zum Regierungssitz und die EG Staaten gründeten die EU. Aus der  Sowjetunion wurde die Gemeinschaft unabhängiger Staaten mit Boris Jelzin als erster gewählter Präsident. In Südtirol fand man Ötzi und Kuweit wurde durch die UNO Streitmacht zurück erobert. Die Scorpions sangen „Wind of Change“ und Milli Vanilli „Keep on running.“ Menschen in Hüfthosen und in neu aufgelegten Petticoats füllten die Kinos, um bei  „ Der mit dem Wolf tanzt und  „Das Schweigen der Lämmer“ Gänsehautgefühle zu spüren. Die 138.000 Toten bei dem Zyklon in Bangladesch verschwanden im Nebel des Vergessens ebenso wie deine Festung und dein Ei. Die Ordensschwestern teilten ihr Schicksal mit dem der Drachen. Es fehlte ihnen an Nachwuchs und sie wurden immer weniger, bis sie schließlich ganz verschwanden und mit ihnen das Säuglingsheim. Seit dieser Zeit befindet sich in deiner Festung die Europabücherei und mit ihr das Wissen der Menschheit, das bis ins Drachenzeitalter zurückreicht. Wo aber dein Ei geblieben ist, kann ich dir nicht sagen. Ein Stockwerk höher befindet sich die Enzyklopädie. Sie weiß alles. Versuch es da!“

Fridolin wirbelte viel Staub auf, als er bei den Nachschlagewerken landete. Auch die Enzyklopädie konnte ihm nicht weiter helfen. Sie war nicht mehr auf dem neuesten Stand. Doch sie verwies ihn auf den Internetzugang, dem man mit größtem Respekt begegnete. Ihm wurde nachgesagt, dass bei ihm alle Suchenden fündig wurden. Selbst der Hlg. Antonius , der früher für Verlorenes zuständig war, verneigte sich vor dieser Professionalität.

Erwartungsvoll machte sich Fridolin schnüffelnd auf den Weg, diesen geheimnisvollen Zugang zu entdecken, bis er auf ein Blatt mit Buchstaben und Zahlen stieß: „ WIFI XP 2016“ begann der Drache zu lesen.  Als er die letzte Zahl ausgesprochen hatte, erblickte er ihn. Ein kleiner grüner Drache äugte vorsichtig hinter einem seltsamen, großen grauen Spiegel hervor.

Mit einem Jubelschrei breitete Fridolin seine Flügel aus und verschluckte gerade noch eine riesengroße Freudenflamme, als sich der kleine Drache an ihn kuschelte. Behutsam trug Fridolin ihn ins Erdgeschoß, wo sie sich gleich neben der Rezeption gemütlich niederließen. Sie beschlossen diesen Platz nie mehr zu verlassen.

Wer aber den kleinen Drachen ausgebrütet hatte und wo er die ganzen Jahre gewesen war und warum der große und der kleine Drache nie entdeckt worden waren, das blieb ein großes Geheimnis.

Vielleicht kann das Kind, das dem kleinen Drachen einen Namen gibt dieses Geheimnis lüften.

Doris Kronawitter

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